Maigret und der Treidler der Providence
Maigret, der neben ihr stand, mit dem Ellenbogen in die Seite.
»Na, hören Sie mal! Sehen wir etwa so alt aus?«
»Kann ich mal einen Blick in den Stall werfen?«
»Wenn Sie wollen. Nehmen Sie die Laterne, die an Deck hängt. Die Pferde sind draußen geblieben, weil wir hoffen, doch noch diese Nacht durchzukommen. Und wenn wir erst einmal in Vitry sind, haben wir keine Sorgen mehr. Die meisten Schiffe nehmen den Marne-Rhein-Kanal. Zur Saône hin ist es ruhiger. Abgesehen von dem acht Kilometer langen unterirdischen Gewölbe, vor dem ich immer Angst habe.«
Maigret ging allein bis zur Mitte des Kahns, wo sich der Stall befand. Er nahm die Sturmlaterne, die als Positionslicht diente, und drang in Jeans Reich ein, das ganz durchtränkt war von einem warmen Geruch nach Mist und Leder.
Fast eine Viertelstunde lang tappte er dort herum, aber ohne Erfolg, und konnte dabei die ganze Zeit hören, wie sich der Besitzer der ›Providence‹ mit den anderen Schiffern am Kai unterhielt.
Als er etwas später zur Schleuse kam, an der sich alle gleichzeitig in dem Gekreisch rostiger Kurbeln und dem Getöse brausenden Wassers zu schaffen machten, um die verlorene Zeit aufzuholen, sah er den Treidler auf einem der Tore stehen, die Peitsche wie ein Halsband um den Nacken gelegt, und einen Schieber bedienen.
Er hatte, wie in Dizy, einen alten Kordanzug an und trug einen ausgebleichten Filzhut, der schon vor langer Zeit sein Band verloren haben mußte.
Ein Kahn kam aus der Schleusenkammer heraus und wurde mit dem Bootshaken weitergestakt, denn anders war zwischen all den dicht gedrängten Schiffen nicht durchzukommen.
Die Stimmen, die einander von einem Kahn zum anderen antworteten, klangen rauh und gereizt, und die Gesichter, auf die ab und zu ein Lichtschein fiel, waren von Übermüdung tief gezeichnet.
Alle diese Leute waren seit drei oder vier Uhr morgens unterwegs und träumten nur von ihrer Suppe und von dem Bett, auf das sie sich dann endlich fallen lassen würden.
Aber jeder wollte erst noch die belagerte Schleuse hinter sich bringen, um die Etappe des nächsten Tages unter günstigen Bedingungen zu beginnen.
Der Schleusenwärter eilte hin und her, schnappte im Vorbeilaufen die Papiere, die der eine oder andere ihm hinhielt, rannte in sein Büro, wo er sie unterschrieb, setzte den Stempel darunter und ließ die Trinkgelder in seiner Tasche verschwinden.
»Pardon …«
Maigret hatte den Arm des Treidlers berührt, der sich langsam umdrehte und ihn mit seinen Augen ansah, die hinter dem dichten Busch seiner Brauen kaum zu erkennen waren.
»Haben Sie noch andere Stiefel außer denen, die Sie anhaben?«
Jean schien nicht sofort zu verstehen. In seinem Gesicht zeigten sich noch mehr Furchen. Er starrte verwirrt auf seine Füße.
Schließlich schüttelte er den Kopf, nahm die Pfeife aus dem Mund und murmelte nur:
»Andere?«
»Sind das die einzigen Schuhe, die Sie haben?«
Ein Kopfnicken, sehr langsam.
»Können Sie Fahrrad fahren?«
Einige Männer, die auf das Gespräch aufmerksam geworden waren, kamen neugierig näher.
»Kommen Sie mit!« sagte Maigret. »Ich brauche Sie …«
Der Treidler folgte ihm in Richtung der Providences die etwa zweihundert Meter entfernt festgemacht hatte. Als er an seinen Pferden vorbeikam, die mit gesenktem Kopf und naßglänzendem Fell im Regen standen, tätschelte er den Hals des Tieres, das am nächsten stand.
»Gehen Sie an Bord.«
Der Besitzer, ganz klein und schmächtig, stemmte sich gegen einen Bootshaken, den er auf den Grund des Kanals gestoßen hatte, und drückte sein Schiff näher zum Ufer hin, um ein zu Tal fahrendes Schiff vorbeizulassen.
Er hatte die beiden Männer, die jetzt in den Stall gingen, von weitem kommen sehen, aber er hatte keine Zeit, sich um sie zu kümmern.
»Haben Sie letzte Nacht hier geschlafen?«
Ein Knurren, das »ja« bedeuten sollte.
»Die ganze Nacht? Haben Sie sich nicht bei dem Schleusenwärter von Pogny ein Fahrrad ausgeliehen?«
Der Treidler machte ein unglückliches Gesicht, wie ein geistig Beschränkter, den man hänselt, oder wie ein Hund, der noch nie Schläge bekommen hat und plötzlich ohne jeden Grund geprügelt wird.
Mit der Hand schob er seinen Hut zurück und rieb sich den Schädel, dessen weiße Haare so borstig waren wie Roßhaar.
»Ziehen Sie Ihre Stiefel aus.«
Der Mann rührte sich nicht und warf einen Blick zum Ufer, wo man die Beine der Pferde sah. Eines von ihnen wieherte, als hätte es verstanden, daß der
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