Maigret und die Affäre Saint Fiacre
trifft … Vier Minuten bis Mitternacht …«
Und mit schroffer Stimme:
»Nicht vergessen: niemand weiß genau! …«
Er griff nach der Whiskyflasche, goß rundum ein, bei Maigrets Glas beginnend und mit jenem Emile Gautiers endend. Sein eigenes füllte er nicht. Hatte er nicht schon genug getrunken? Eine Kerze erlosch. Die übrigen waren nahe daran.
»Ich sagte Mitternacht … Noch drei Minuten …«
Er benahm sich wie ein Auktionator bei einer Verste i gerung.
»Drei Minuten … noch zwei … Gleich wird der Mörder sterben! … Sie können zu einem Gebet ansetzen, Herr Pfarrer … Und Sie, Doktor, haben Sie Ihre Tasche dabei? … Noch zwei Minuten … Noch ander t halb …«
Und immer wieder dieser insistierende Fuß an jenem Maigrets. Er wagte nicht mehr, sich zu bücken, weil er fürchtete, etwas anderes zu verpassen.
»Ich gehe!« rief der Anwalt, der sich erhob.
Alle Blicke wandten sich ihm zu. Er stand. Er umklammerte die Lehne seines Stuhls. Er zögerte, die drei gefährlichen Schritte zu tun, die ihn an die Türe bringen würden. Der Schluckauf schüttelte ihn.
Im selben Augenblick knallte ein Schuß. Dann gab es eine Sekunde, vielleicht zwei, völliger Reglosigkeit.
Eine weitere Kerze erlosch, und zugleich schwankte Maurice de Saint-Fiacre, stieß mit den Schultern gegen die Lehne seines gotischen Stuhls, neigte sich nach links, versuchte sich aufzufangen, sank aber schlaff zusammen, den Kopf auf dem Arm des Priesters.
10
Die Totenwache
D
ie anschließende Szene war konfus. Überall geschah etwas, und nachher hätte jeder bloß denjenigen Teil des Geschehens schildern können, den er pe r sönlich verfolgte.
Nur fünf Kerzen blieben noch als Beleuchtung des Speisezimmers übrig. Große Partien des Raumes lagen im Dunkeln, und die umhereilenden Gestalten ve r schwanden darin oder tauchten daraus auf wie aus den Kulissen einer Bühne.
Der, der geschossen hatte, war einer von Maigrets Tischnachbarn: Emile Gautier. Und kaum war der Schuß verhallt, da hielt er dem Kommissar beide Handgelenke hin, in einer theatralischen Geste.
Maigret stand. Gautier erhob sich. Sein Vater ebenfalls. Diese drei bildeten eine Gruppe auf einer Seite des Tisches, während gegenüber eine zweite Gruppe sich um das Opfer scharte.
Der Graf de Saint-Fiacre lag noch immer mit dem Kopf auf dem Arm des Priesters. Der Arzt hatte sich über ihn gebeugt, dann mit düsterer Miene aufgeschaut.
»Tot?« ertönte die Stimme des rundlichen Anwalts.
Keine Antwort. Es schien, daß dort drüben recht zögernd agiert wurde, wie unter schlechten Schauspielern.
Nur Jean Métayer hatte sich weder zu den einen noch zu den anderen gesellt. Er war bei seinem Stuhl gebli e ben, unruhig, am ganzen Leib zitternd, und er wußte nicht, wohin er schauen sollte.
Während der Minuten, die seiner Tat vorausgegangen waren, mußte Emile Gautier sein nachfolgendes Auftreten vorbedacht haben, denn gleich nachdem er die Waffe auf den Tisch zurückgelegt hatte, machte er, Maigret in die Augen blickend, eine regelrechte Aussage:
»Er selber hat es angekündigt, nicht wahr? … Der Mörder mußte sterben … Und da er zu feige war, sich selber zu richten …«
Seine Selbstsicherheit war außerordentlich.
»Deshalb tat ich, was ich als meine Pflicht betrachtete …«
Hörte man ihn auf der anderen Seite des Tisches? Schritte ertönten im Korridor.
Es waren die Dienstboten. Und der Arzt ging zur Türe, um zu verhindern, daß sie hereinkamen. Ma i gret vernahm nicht, was er ihnen sagte, um sie fortzuschicken.
»Ich sah Saint-Fiacre in der Nacht vor dem Verbrechen beim Schloß herumlungern … Das ließ mich dann alles verstehen …«
Die ganze Szene wirkte holperig. Und Gautier wurde geradezu unglaubhaft pompös, als er fortfuhr:
»Die Richter werden befinden, ob …«
Die Stimme des Arztes warf ein:
»Sind Sie sicher, daß es Saint-Fiacre war, der die Gr ä fin umbrachte?«
»Ganz sicher! Hätte ich gehandelt, wie ich es tat, wenn …«
»Sie haben ihn in der Nacht vor dem Verbrechen beim Schloß gesehen?«
»Ich sah ihn, wie ich Sie sehe. Er hatte sein Auto am Rand des Dorfes stehenlassen.«
»Einen weiteren Beweis haben Sie nicht?«
»Doch, einen! Heute nachmittag war der rothaarige Chorknabe bei mir in der Bank, mit seiner Mutter … Die Mutter hat ihn zum Reden gebracht … Kurz nach dem Verbrechen forderte der Graf den Buben auf, ihm das Meßbuch zu bringen, und er gab ihm eine Geldsumme …«
Maigret war mit seiner Geduld am
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