Maigret und die alte Dame
Sie waren noch nicht einmal zwanzig, oder? Sie hätte Sie warnen müssen!«
»Weswegen?«
»Als sie verkündeten, Sie würden Julien Sudre heiraten, hat sie nicht versucht, Sie davon abzuhalten? Kurz und gut, diese Heirat galt doch als unstandesgemäß. Fernand Besson stand auf dem Höhepunkt seiner Karriere. Sie lebten im Luxus und heirateten einen Zahnarzt ohne Vermögen und Zukunft.« »Mama äußerte sich nicht dazu.«
»Und Ihr Stiefvater?«
»Er traute sich nicht. Er war mir gegenüber gehemmt. Ich glaube, er machte sich Vorwürfe. Im Grunde ist er wohl ein aufrichtiger, sogar ein gewissenhafter Mensch gewesen. Er war fest davon überzeugt, dass ich diesen Schritt seinetwegen tat. Er wollte mir eine ansehnliche Mitgift schenken, die Julien ablehnte.«
»Auf Ihren Rat hin?«
»Ja.«
»Hat Ihre Mutter nie einen Verdacht gehabt?«
»Nein.«
Sie gingen jetzt auf einem Weg, der zur Steilküste hinaufführte. Sie sahen, wie der Strahl des Leuchtturms von Antifer in regelmäßigen Abständen über den Himmel glitt, und sie hörten von irgendwoher den dumpfen Ton eines Nebelhorns. Ein starker Tanggeruch stieg bis zu ihnen herauf. Trotz ihrer hohen Absätze und ihrer Pariser Kleidung zeigte Arlette weder Zeichen von Ermüdung noch klagte sie über die Kälte.
»Ich möchte Sie etwas anderes, Persönlicheres fragen.«
»Ich kann mir denken, was Sie fragen wollen.«
»Wann wussten Sie, dass Sie keine Kinder bekommen würden? Vor der Heirat?«
»Ja.«
»Wie?«
»Haben Sie vergessen, was ich Ihnen soeben erzählt habe?«
»Ich habe es nicht vergessen, aber...«
»Nein, ich habe überhaupt keine Verhütungsmittel benutzt und dies auch den Männern nicht erlaubt.«
»Warum?« »Ich weiß nicht. Vielleicht aus einem Gefühl der Sauberkeit heraus.«
Er hatte den Eindruck, als ob sie in der Dunkelheit erröten würde, und ihre Stimme klang irgendwie verändert.
»Wodurch haben Sie Gewissheit erlangt?«
»Durch einen jungen Arzt, einen Internisten aus Lariboisiere.«
»Der Ihr Liebhaber war.«
»Wie die anderen auch. Er untersuchte mich und ließ mich auch von Kollegen untersuchen.«
Er zögerte verlegen, weil ihm eine Frage auf der Zunge lag. Sie merkte es.
»Reden Sie! Wenn ich nun schon einmal so weit bin...«
»Beschränkten sich diese Termine mit seinen Freunden auf den rein medizinischen Bereich oder auch...«
»Oder auch, ja!«
»Jetzt verstehe ich!«
»Dass ich das Gefühl hatte, ich müsste mit all dem Schluss machen, nicht wahr?«
Sie redete immer noch mit dieser inneren Distanz und der monotonen Stimme, als ob nicht von ihr, sondern von irgendeinem pathologischen Fall die Rede wäre.
»Fragen Sie weiter!«
»Nun gut. Im Verlauf dieser... dieser amourösen Erfahrungen oder später, mit Ihrem Mann oder mit anderen, haben Sie da schon...«
»Den normalen Genuss gehabt. Meinten Sie das?«
»Ich wollte statt Genuss Befriedigung sagen.«
»Weder das eine noch das andere. Sehen Sie, Sie sind nicht der erste, der mich danach fragt. Es kommt vor, dass ich mit einem Mann von der Straße mitgehe, es kommt aber auch vor, dass ich mit intelligenten Männern, mit Leuten, Männern in höheren Positionen schlafe...«
»Gehört Hervé Peyrot zu ihnen?«
»Er ist ein Dummkopf und ein Laffe.«
»Wie würden Sie reagieren, wenn Ihre Mutter Ihnen plötzlich eröffnen würde, dass sie über diesen Punkt in Ihrem Leben Bescheid weiß?«
»Ich würde ihr sagen, sie soll sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern.«
»Nehmen Sie einmal an, sie würde Ihnen raten, alles Ihrem Mann zu erzählen, in dem Gefühl, es sei ihre Pflicht, und in der Hoffnung, Sie vor schlimmen Erfahrungen zu bewahren!«
Schweigen. Sie blieb stehen.
»Wollten Sie das erreichen?« fragte sie vorwurfsvoll.
»Ich wollte es eigentlich gar nicht.«
»Ich weiß nicht. Ich habe Ihnen schon einmal gesagt, dass Julien um nichts in der Welt davon erfahren darf.«
»Warum?«
»Haben Sie nicht begriffen?«
»Weil Sie fürchten, ihm Kummer zu bereiten?«
»Ja, das ist es. Julien ist glücklich. Er ist einer der glücklichsten Menschen, die ich kenne. Keiner hat das Recht, ihm dieses Glück wegzunehmen. Dann...«
»Dann?...«
»Er ist wahrscheinlich der einzige Mann, der mich respektiert, der mich anders behandelt als... als, na ja, Sie wissen schon.«
»Und Sie brauchen das?«
»Vielleicht.«
»Das heißt also, wenn Ihre Mutter...« »Wenn sie mir drohen würde, mich bei ihm schlecht zu machen, wäre ich zu allem fähig, um sie
Weitere Kostenlose Bücher