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Maigret und die alte Dame

Maigret und die alte Dame

Titel: Maigret und die alte Dame Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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Geldscheine auf die Theke geblättert hatte, gingen sie beide hinaus, doch vorher drehte sich der junge Mann noch zweimal nach dem Kommissar um.
    »Wer ist das?«
    »Kennen Sie ihn nicht? Es ist Theo. Valentines Stiefsohn.«
    »Und der Junge?«
    »Einer von Roses Brüdern, dem armen Mädchen, das sterben musste, weil sie Gift trank, das eigentlich für ihre Herrin gedacht war.«
    »Der älteste Bruder?«
    »Henri, ja. Er ist bei den Heringsfischern in Fécamp.«
    »Kamen sie zusammen herein?«
    »Ich glaube schon. Warten Sie. Da waren mehrere Leute an der Bar. Sie kamen jedenfalls kurz hintereinander, wenn nicht sogar zusammen herein.«
    »Sie wissen nicht, worüber sie sich unterhielten?«
    »Nein. Zuerst war es zu laut, mehrere Leute unterhielten sich nebeneinander. Dann ging ich in den Keller, um ein Fass anzuzapfen.«
    »Haben Sie sie früher schon zusammen gesehen?«
    »Ich glaube nicht. Ich bin aber nicht sicher. Ich habe aber Theo mit dem Fräulein gesehen.«
    »Mit welchem Fräulein?«
    »Der Rose.«
    »Haben Sie sie auf der Straße gesehen?«
    »Hier in der Bar, mindestens zweimal.«
    »Machte er ihr den Hof?«
    »Das kommt darauf an, was Sie darunter verstehen. Sie haben sich nicht geküsst, und er fasste sie auch nicht an, wenn Sie das meinen. Aber sie haben sich nett unterhalten, und sie lachten. Und ich merkte schnell, dass er immer für ein volles Glas bei ihr sorgte. Das war weiter nicht schwierig, denn nach einem Glas Wein konnte sie sich schon nicht mehr halten vor Lachen, und beim zweiten war sie bereits blau.«
    »Wann war das?«
    »Warten Sie, das letzte Mal vor ungefähr einer Woche. Halt! Es war am Mittwoch, denn an diesem Tag fährt meine Frau immer nach Le Havre.«
    »Und das erste Mal?«
    »Vielleicht eine oder zwei Wochen früher.«
    »Ist Monsieur Theo ein guter Kunde?«
    »Er gehört nicht zu meinen Stammgästen. Er geht überall hin, wo es was zu trinken gibt. Er tut den ganzen Tag nichts und geht spazieren. Doch kann er an keinem Café oder keiner Bar Vorbeigehen, ohne nicht kurz hereinzuschauen. Er wird nie laut. Er legt sich mit niemand an. An manchen Abenden hat er eine schwere Zunge und lallt nur noch, aber das ist alles.
    Ich hoffe, Sie verdächtigen nicht ihn, seine Stiefmutter vergiftet zu haben. Wenn ich einem trauen würde, dann ihm. Übrigens sind Leute, die so trinken wie er, nie gefährlich. Die schlimmsten sind die, die sich einmal bei passender Gelegenheit betrinken und nicht mehr wissen, was sie tun.«
    »Haben Sie Roses Bruder oft gesehen?«
    »Selten. Die aus Yport kommen nicht gern nach Etretat. Diese Leute bleiben unter sich. Sie gehen eher nach Fécamp, weil es näher und mehr nach ihrem Geschmack ist. Ein kleiner Calvados gefällig nach dem Bier? Das ist meine Runde.«
    »Nein. Noch ein kleines.«
    Das Bier schmeckte nicht gut und lag Maigret nachts auf dem Magen. Mehrmals wachte er plötzlich auf, hatte quälende Träume, an die er sich nicht mehr erinnern konnte, die ihn aber hinterher bedrückten. Als er endlich aufstand, hörte er immer noch den heiseren Ton des Nebelhorns vom Meer herüber, und die Flut musste hoch sein, denn das Hotel erzitterte bei jedem Brecher der Wellen.
5

Die Ansichten eines guten Kerls
    D er Nebel hatte sich beinahe aufgelöst, nur über dem ganz ruhig daliegenden, von einer leichten Dünung bewegten Meer dampfte es noch, und diese Schwaden leuchteten in allen Regenbogenfarben.
    Die Strahlen der Morgensonne tauchten die Häuser der Stadt langsam in goldenes Licht, die Luft war frisch, von einer köstlichen Frische, die durch alle Poren drang. An den Ständen der Gemüsehändler roch es gut, Milchflaschen standen noch vor den Haustüren, und in den Bäckereien duftete es nach frischem, knusprigem Brot.
    Auch dies erinnerte ihn an seine Kindheit, an eine Wunschvorstellung der Welt, wie man sie gern haben möchte. Etretat lag da, blitzblank und arglos, mit seinen zu kleinen, zu hübschen und zu frisch gestrichenen Häusern, die für ein Drama nicht geschaffen schienen; die Felsen ragten aus dem Nebel, genau wie auf den Postkarten, die an der Ladentür ausgehängt waren; der Metzger, der Bäcker und der Gemüsehändler hätten Figuren für ein Märchenstück abgeben können. War dies eine persönliche Eigenart Maigrets? Oder hatten andere auch solche Sehnsüchte und gaben sie nur nicht zu? Er wünschte sich die Welt so, wie man sie als Kind entdeckt. In Gedanken sagte er immer: >Wie auf den Bildern.