Maigret und die alte Dame
Frau so bedeutungsvoll an, dass beide misstrauisch wurden. Arlettes Gesicht nahm einen harten Zug an, behielt jedoch seinen unbeteiligten Ausdruck.
»Würden Sie mir bitte sagen, wer mich am Telefon verlangt?« fragte der Kommissar ungeduldig.
Der Mann war verärgert, als ob er gezwungenermaßen ein Staatsgeheimnis preisgeben müsste.
»Monsieur Charles Besson.«
Maigret lächelte verstohlen zu Arlette hinüber, die wohl geglaubt hatte, es handle sich um ihren Mann, stand auf und fragte: »Warten Sie auf mich?«
Nachdem ihre Augen ihm zu verstehen gaben, dass sie warten würde, ging er zur Kabine; der Geschäftsführer lief neben ihm und erklärte:
»Es wäre besser gewesen, ich hätte Ihnen die Nachricht überbringen lassen, nicht wahr? Ich muss mich für dieses Versehen eines meiner Angestellten entschuldigen. Anscheinend rief Monsieur Besson schon im Lauf des Tages zwei- oder dreimal an, und man vergaß Ihnen das zu sagen, als Sie zum Abendessen zurückkamen.«
Eine sonore Stimme war am anderen Ende der Leitung, eine Stimme, bei der der Apparat zu vibrieren schien.
»Kommissar Maigret? Ich bin untröstlich und außer mir. Ich weiß nicht, wie ich mich entschuldigen soll, aber vielleicht nehmen Sie es mir nicht zu sehr übel, wenn Sie hören, wie es mir ergangen ist.«
Maigret kam nicht zu Wort. Die Stimme fuhr fort:
»Ich reiße Sie aus Ihrer Arbeit, Ihrer Familie. Ich lasse Sie nach Etretat kommen und bin nicht einmal da, um Sie zu empfangen. Wissen Sie, dass ich vorhatte, Sie heute Morgen am Bahnhof abzuholen, und erfolglos versuchte, den Bahnhofsvorsteher ans Telefon zu kriegen, damit er Ihnen eine Nachricht zukommen lässt? Hallo!«
»Ja.«
»Stellen Sie sich vor, ich musste letzte Nacht Hals über Kopf nach Dieppe, weil die Mutter meiner Frau gestorben ist.«
»Sie ist gestorben?«
»Erst heute Nachmittag, aber ich war gezwungen zu bleiben, da sie nur Töchter hat und ich der einzige Mann im Haus war. Sie wissen ja, wie so etwas ist. Man muss an alles denken. Ich konnte Sie von dort nicht anrufen, weil die Sterbende nicht das geringste Geräusch vertragen konnte; ich habe mich dreimal für ein paar Minuten aus dem Haus gestohlen, um Sie aus einer Bar in der Nähe anzurufen. Es war entsetzlich.«
»Hat sie sehr gelitten?«
»Nicht besonders, aber sie wusste, dass sie sterben würde.«
»Wie alt war sie?«
»88 Jahre. Ich bin jetzt wieder in Fécamp und versorge die Kinder. Meine Frau ist mit dem Baby unten geblieben. Wenn Sie es jedoch wünschen, kann ich mich ins Auto setzen und Sie schon heute Abend treffen. Ansonsten sagen Sie mir, wann ich Sie morgen Vormittag am wenigsten störe, und ich werde pünktlich bei Ihnen sein.«
»Haben Sie mir etwas mitzuteilen?«
»Sie meinen wegen der Geschichte am Sonntag? Ich weiß nicht mehr als das, was Sie schon wissen. Ah! Ich wollte Ihnen aber sagen, dass ich von allen Zeitungen von Le Havre bis Rouen die Zusage erhalten habe, dass sie nichts über den Fall bringen. In Paris ist es faktisch genauso. Das hat mich einige Mühe gekostet. Ich musste am Dienstag früh persönlich nach Rouen. Sie haben den Vorfall in drei Zeilen gemeldet und geschrieben, es handle sich vermutlich um einen Unfall.«
Endlich holte er Luft, aber nun hatte ihm der Kommissar nichts zu sagen.
»Sind Sie gut untergebracht? Hat man Ihnen ein gutes Zimmer gegeben? Ich hoffe, Sie klären diese bedauerliche Geschichte auf. Ich weiß nicht, ob Sie Frühaufsteher sind. Ist es Ihnen recht, wenn ich um 9 Uhr in Ihrem Hotel bin?«
»Wenn Ihnen das passt.«
»Ich bedanke mich bei Ihnen und möchte mich noch einmal bei Ihnen entschuldigen.«
Maigret verließ die Zelle und sah Arlette, die allein im Speisesaal saß, die Ellenbogen auf dem Tisch aufgestützt, während abgeräumt wurde.
»Er musste nach Dieppe fahren«, sagte er.
»Ist sie endlich gestorben?«
»War sie krank?«
»Sie stirbt schon seit zwanzig oder dreißig Jahren. Charles wird sich freuen.«
»Mochte er sie nicht?«
»Er wird eine Zeit sorgenlos leben können, denn er erbt ein großes Vermögen. Kennen Sie Dieppe?«
»Nur flüchtig.«
»Die Montets besitzen dort ungefähr einen Viertel der Häuser. Er wird ein reicher Mann, aber er wird über kurz oder lang das Geld bei irgendeiner abenteuerlichen Geschichte verlieren. Es sei denn, Mimi erlaubt es nicht, denn im Grunde gehört ihr das Geld, und ich glaube, sie kann sich durchsetzen.«
Es war eigenartig. Sie redete über diese Dinge ohne jede Feindseligkeit; in
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