Maigret und die alte Dame
ihrer Stimme lag weder Bosheit noch Neid. Sie redete über die Leute einfach so, wie sie sie sah, und sie erschienen in einem viel schonungsloseren Licht als auf den Fotos der anthropometrischen Abteilung.
Maigret hatte ihr gegenüber wieder Platz genommen und stopfte seine Pfeife, doch er zögerte, sie anzuzünden.
»Sie sagen mir, wenn ich Sie störe.«
»Sie haben es anscheinend nicht eilig, nach La Bicoque zu kommen.«
»Nein, gar nicht.«
»Heißt das, Sie nehmen mit jeder Gesellschaft vorlieb?«
Er wusste genau, dass es nicht stimmte und sie jetzt, da sie einmal am Reden war, wahrscheinlich mehr erzählen wollte. Aber in diesem riesigen Saal, in dem gerade beinahe alle Lampen ausgemacht wurden und das Personal ihnen zu verstehen gab, dass sie gehen sollten, war es schwierig, das Gespräch da aufzunehmen, wo sie stehengeblieben waren.
»Möchten Sie woanders hingehen?«
»Wohin? In einer Bar könnten wir Theo begegnen, den ich lieber nicht treffen möchte.«
»Lieben Sie ihn noch?«
»Nein. Ich weiß nicht.«
»Sind Sie ihm böse?«
»Ich weiß nicht. Kommen Sie. Wir können auch ein Stück gehen.«
Draußen war es dunkel, und Nebel dämpfte den Schein der wenigen elektrischen Straßenlaternen. Lauter als tagsüber drang das gleichmäßige Meeresrauschen zu ihnen herüber, das zu einem Brausen anschwoll.
»Darf ich Ihnen noch ein paar Fragen stellen?«
Sie trug Schuhe mit hohen Absätzen, und er vermied mit Rücksicht auf sie Straßen ohne Bürgersteige, vor allem solche mit holprigem Pflaster, wo sie sich den Knöchel verstauchen konnte.
»Deswegen bin ich hier. Irgendwann werden Sie mir sowieso Fragen stellen müssen, nicht wahr? Ich möchte morgen mit ruhigem Gewissen nach Paris zurückfahren.«
Seit seiner Jugend war Maigret nur noch selten abends in Begleitung einer hübschen Frau durch die dunklen und leeren Straßen einer Kleinstadt gewandert, und er empfand beinahe Schuldgefühle. Kaum ein Mensch begegnete ihnen. Man hörte ihre Schritte, lange bevor man ihre Schatten sah, die meisten drehten sich nach diesem Paar um, das noch so spät unterwegs war, vielleicht beobachtete man sie auch hinter den Vorhängen der erleuchteten Fenster.
»Am Sonntag hatte Ihre Mutter Geburtstag, wenn ich recht verstanden habe.«
»Am 1. September, ja. Für meinen Stiefvater war dieser Tag so bedeutend wie ein Nationalfeiertag, und er duldete nicht, dass jemand aus der Familie fehlte. Wir behielten später die Gewohnheit bei, uns bei unserer Mutter zu treffen. Das ist sozusagen Tradition geworden, verstehen Sie?«
»Außer bei Theo, nach dem, was Sie mir vorhin erzählten.«
»Außer bei Theo, und zwar seit dem Tod seines Vaters.«
»Brachten Sie Geschenke mit, und darf ich wissen, welche?«
»Durch einen komischen Zufall brachten Mimi und ich beinahe das gleiche Geschenk mit, einen Spitzenschal. Es war schwierig, meiner Mutter etwas zu schenken, weil sie alles hatte, was sie sich nur wünschte, die teuersten und ausgefallensten Sachen. Brachte man ihr eine Kleinigkeit mit, lachte sie laut; ein Lachen, das weh tut, und sie bedankte sich mit übertriebener Herzlichkeit. Da sie Spitzen über alles liebt, hatten wir beide die gleiche Idee.«
»Keine Schokolade, keine Bonbons, keine Leckereien?«
»Ich weiß, was Sie denken. Niemand käme auf die Idee, ihr Schokolade oder Süßigkeiten zu schenken, die sie überhaupt nicht mag. Sehen Sie, Mama gehört zu den Frauen, die zwar zierlich und zart wirken, aber einen gebratenen oder marinierten Hering, ein Glas Gurken oder ein schönes Stück geräucherten Speck allen Leckereien vorziehen.«
»Und Sie?«
»Ich nicht.«
»Hat irgendjemand in der Familie je etwas davon geahnt, was sich damals zwischen Ihrem Stiefvater und Ihnen abspielte?«
»Ich bin mir nicht ganz sicher, aber ich könnte schwören, dass Mama immer schon davon gewusst hat.«
»Von wem hätte sie es erfahren können?«
»Von niemand. Entschuldigen Sie, wenn es wieder so aussieht, als würde ich schlecht über die Leute reden, aber sie stand immer an der Tür und spionierte. Das ist eine Manie bei ihr. Erst bespitzelte sie mich und dann überwachte sie Fernand. Sie bekam alles im Haus mit, in ihrem Haus, auch alles über den Diener, den Chauffeur und die Mädchen.«
»Warum?«
»Um es zu wissen. Weil es ihr Haus war.«
»Und Sie glauben, dass sie auch über Theo und Sie Bescheid weiß?«
»Ich bin beinahe sicher.«
»Hat sie mit Ihnen nie darüber geredet, nie eine Anspielung gemacht?
Weitere Kostenlose Bücher