Maigret und die alte Dame
davon abzuhalten.«
»Auch sie umzubringen?«
»Ja.« Und sie fügte hinzu:
»Ich kann Ihnen versprechen, dass es bis jetzt noch nie so weit gekommen ist.«
»Warum sagen Sie bis jetzt ?«
»Weil sie jetzt nicht nur Bescheid weiß, sondern auch einen Beweis hat. Sie hat mit mir heute Nachmittag über Hervé gesprochen.«
»Was hat sie Ihnen gesagt?«
»Sie würden sich sicher wundern, wenn ich Ihnen wiederholen würde, was sie gesagt hat. Wissen Sie, Mama ist bei all ihren vornehmen Allüren doch das Kind aus dem Volk, die Tochter eines Fischers geblieben, die im vertrauten Kreis gerne mal entgleist. Sie sagte zu mir, ich hätte das überall, aber nicht gerade unter ihrem Dach machen können, und redete über das, was zwischen mir und Hervé vorgefallen ist, in den ordinärsten Ausdrücken. An Julien ließ sie ebenfalls kein gutes Haar und verglich ihn mit einem bestimmten Fisch; sie geht nämlich davon aus, dass er genau im Bilde ist und seinerseits davon profitiert...«
»Haben Sie ihn in Schutz genommen?«
»Ich befahl meiner Mutter, sofort den Mund zu halten.«
»Wie?«
»Ich schaute sie an und sagte ihr, ich verlange , dass sie den Mund halten solle. Als sie trotzdem weiterredete, habe ich sie geohrfeigt; sie war so verblüfft, dass sie sofort verstummte.«
»Wartet sie auf Sie?«
»Sie geht sicher nicht ins Bett, bevor ich nicht nach Hause gekommen bin.«
»Sie wollen wirklich bei ihr übernachten?«
»Sie kennen die Umstände und müssen zugeben, dass ich nur schwerlich etwas anderes tun kann. Ich muss vor der Abreise ganz sicher gehen, dass sie Julien nichts erzählen und nichts unternehmen wird, was ihn beunruhigen könnte.«
Sie schwieg erst und lachte dann, vielleicht weil sie Maigrets Befürchtungen erraten hatte, kurz und trocken auf:
»Haben Sie keine Angst! Es wird kein Drama geben!«
Sie waren nun ganz oben auf dem Felsen angekommen; zum Meer hin hatte sich eine milchige Nebelwand gebildet, und man hörte, wie die Wellen an die Klippen brandeten.
»Auf der rechten Seite kommen wir wieder hinunter. Der Weg ist besser und geht beinahe direkt bis La Bicoque. Haben Sie bestimmt keine Fragen mehr an mich?«
Der Mond musste hinter der Nebelwand aufgegangen sein, die jetzt etwas durchsichtiger schimmerte; als Arlette stehenblieb, sah er den hellen Flecken ihres Gesichts und die Konturen ihres großen dunkelroten Mundes.
»Im Augenblick nicht«, antwortete er.
Sie stand immer noch unbeweglich vor ihm und setzte mit veränderter Stimme, die ihm weh tat, hinzu:
»Und Sie... wollen die Gelegenheit nicht nutzen? Wie all die anderen?«
Er hätte ihr wie einer verdorbenen Tochter beinahe eine Ohrfeige gegeben, so wie sie heute ihre Mutter geohrfeigt hatte. Aber er fasste sie nur hart am Arm und zwang sie zum Abstieg.
»Hören Sie, was ich Ihnen gerade sagte, galt Ihnen.«
»Seien Sie ruhig!«
»Geben Sie zu, dass Sie in Versuchung sind.«
Er drückte sie fester am Arm, beinahe gemein.
»Sind Sie sicher, dass Sie es nicht bereuen?«
Sie redete lauter, und ihre Stimme klang hart und bitter.
»Überlegen Sie sich’s gut, Kommissar!«
Er ließ sie abrupt stehen und stopfte im Weitergehen seine Pfeife, ohne sich weiter um sie zu kümmern. Er hörte, wie sie noch einmal stehenblieb, dann langsam weiterlief und schließlich schneller ging, um ihn einzuholen.
Maigrets Gesicht war in diesem Augenblick im Schein eines angezündeten Streichholzes zu sehen, das er über den Pfeifenkopf hielt.
»Ich möchte Sie um Entschuldigung bitten. Ich habe mich gerade idiotisch benommen.«
»Ja.«
»Sind Sie mir sehr böse?«
»Reden wir nicht mehr darüber.«
»Glauben Sie wirklich, dass ich es gewollt hätte?«
»Nein.«
»Nachdem ich gezwungen war, mich so zu erniedrigen, wollte ich Ihnen weh tun und Sie demütigen.«
»Ich weiß.«
»Es hätte mir Genugtuung verschafft, wenn Sie wie ein Tier über mir gewesen wären.«
»Kommen Sie.«
»Geben Sie zu, dass Sie glauben, ich hätte versucht, meine Mutter zu töten?«
»Noch nicht.«
»Wollen Sie damit sagen, dass Sie sich dessen nicht sicher sind?« »Ich will damit nur sagen, was die Worte bedeuten, dass ich es nicht weiß.«
»Wenn Sie mich für schuldig halten, sagen Sie es mir?«
»Wahrscheinlich.«
»Sagen Sie es mir unter vier Augen.«
»Ich verspreche es Ihnen.«
»Aber ich bin nicht schuldig.«
»Ich wünschte es.«
Er hatte jetzt genug von dieser gereizten Unterhaltung. Die Beharrlichkeit Arlettes regte ihn auf. Sie schien
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