Maigret und die alte Dame
die Anwesenheit einer erwachsenen Tochter störte. Vielleicht war sie auch eifersüchtig.«
»Worauf?«
»Fernand neigte dazu, mich zu verwöhnen und zu verhätscheln. Als ich mit siebzehn Jahren nach Paris zurückkehrte, war er auf einmal ständig hinter mir her.«
»Sie wollen sagen... ?«
»Nein. Nicht gleich. Ich war achtzehneinhalb, als das passierte. Ich zog mich abends zum Theater um. Er kam in mein Zimmer, bevor ich fertig angezogen war.«
»Was geschah dann?«
»Nichts. Er wurde zudringlich, und ich habe ihn ge ohrfeigt. Daraufhin fiel er vor mir auf die Knie und fing an zu weinen, wobei er mich anflehte, Mama nichts zu sagen und nicht wegzufahren. Er schwor mir, er habe sich nur einen Augenblick vergessen, es würde nie wieder vorkommen.«
Ohne jede innere Bewegung fügte sie hinzu:
»Er sah so lächerlich aus in seinem Anzug und mit der Hemdenbrust, die aus der Weste gerutscht war. Er musste Hals über Kopf aufstehen, weil das Zimmermädchen hereinkam.«
»Sie sind geblieben?«
»Ja.«
»Waren Sie in jemand verliebt?«
»Ja.«
»In wen?«
»In Theo.«
»War er auch in Sie verliebt?«
»Er beachtete mich nicht. Er wohnte in einer Junggesellenwohnung im Erdgeschoß, und ich wusste, dass er trotz des Verbots seines Vaters Frauen mit nach Hause brachte. Ich habe ihm nächtelang aufgelauert. Eine war eine kleine Tänzerin am Châtelet, und eine Zeitlang kam sie beinahe jeden Abend. Ich hatte mich im Zimmer versteckt.«
»Haben Sie ihr eine Szene gemacht?«
»Ich weiß nicht mehr genau, was ich gemacht habe, aber sie zog wütend ab, und ich blieb mit Theo allein.«
»Und dann?«
»Er wollte nicht. Ich habe ihn beinahe dazu zwingen müssen.«
Sie redete leise und mit einer solchen Selbstverständlichkeit, dass es etwas Verwirrendes an sich hatte, noch dazu in diesem kleinbürgerlichen Urlaubsrahmen, mit der Bedienung in ihrem schwarzen Kleid und der weißen Schürze, die von Zeit zu Zeit an den Tisch kam und sie unterbrach.
»Und danach?« wiederholte er.
»Es gab kein danach. Wir gingen uns aus dem Weg.«
»Warum?«
»Wahrscheinlich schämte er sich.«
»Und Sie?«
»Weil ich angeekelt war von den Männern.«
»Haben Sie deswegen so plötzlich geheiratet?«
»Nicht gleich danach. Über ein Jahr habe ich mit allen Männern geschlafen, mit denen ich zusammenkam.«
»Aus Ekel?«
»Ja. Sie können das nicht verstehen.«
»Und dann?«
»Ich begriff, dass es nicht gut so weitergehen könnte; ich war angeekelt, ich wollte neu anfangen.«
»Indem Sie heirateten?«
»Indem ich versuchen wollte, so zu leben wie andere auch.«
»Und als Sie verheiratet waren, haben Sie weitergemacht?«
Sie schaute ihn ernst an und sagte dann: »Ja.«
Es entstand eine lange Pause, in der man das Lachen der jungen Mädchen vom anderen Tisch herüberhörte.
»Vom ersten Jahr an?«
»Vom ersten Monat an.«
»Warum?«
»Ich weiß nicht. Weil ich nicht anders kann. Julien hat nie etwas gemerkt, und ich wäre mit allem einverstanden, damit er auch jetzt nichts erfährt.«
»Lieben Sie ihn?«
»Vielleicht lachen Sie! Ja. Er ist jedenfalls der einzige Mann, den ich respektiere. Haben Sie noch weitere Fragen an mich?«
»Wenn ich alles verdaut habe, was Sie mir bisher erzählt haben, wahrscheinlich.«
»Lassen Sie sich Zeit.«
»Übernachten Sie in La Bicoque?«
»Es wird mir wohl nichts anderes übrigbleiben. Die Leute würden nicht verstehen, warum ich ins Hotel gehe, und vor morgen früh fährt kein Zug.«
»Haben Sie sich gestritten? Ihre Mutter und Sie?«
»Wann?«
»Heute Nachmittag.«
»Wir haben uns wie gewöhnlich die Meinung gesagt. Es ist beinahe ein Ritual geworden, sobald wir zusammen sind.«
Sie hatte keinen Nachtisch bestellt, und bevor sie vom Tisch aufstand, zog sie die Lippen nach und betupfte das Gesicht mit einer winzig kleinen Puderquaste.
Er hatte noch nie so helle Augen gesehen wie ihre; sie waren noch klarer als die Valentines, aber ebenso ausdruckslos wie der Himmel, an dem Maigret gerade vergeblich den grünen Schimmer gesucht hatte.
4
Der Weg zur Steilküste
Maigret fragte sich, ob mit dem Ende der Mahlzeit auch ihre Unterhaltung beendet sei oder ob sie woanders weiterreden sollten. Arlette zündete sich gerade eine Zigarette an, als der Geschäftsführer auf den Kommissar zukam und ihm mit so leiser Stimme etwas zuflüsterte, dass Maigret ihn bitten musste, es zu wiederholen.
»Sie werden am Telefon verlangt.«
»Von wem?«
Der Geschäftsführer schaute die junge
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