Maigret und die Unbekannte
ermöglicht, ihren Einsatz mehrmals zu verdoppeln. Solange sie ihn verdoppeln können und ihre Farbe schließlich herauskommt, riskieren sie nichts. Sie müssen sich freilich mit einem kleinen Gewinn begnügen, der gerade für ihren Lebensunterhalt und die tägliche Autobusfahrt reicht. Die Direktion des Kasinos kennt sie. Es sind ein paar Männer darunter, aber die meisten sind bejahrte Frauen. Wenn viel Publikum da ist und alle Tische besetzt sind, entledigt man sich ihrer dadurch, daß man ihnen das gibt, was sie nach ein paar Stunden doch gewinnen würden…«
»Lebt sie allein?«
»Ja. Wenn sie zurückkommt, muß ich zu ihr gehen. Sie bewohnt ein möbliertes Zimmer in der Rue Greuze, in der Nähe des Boulevard Victor Hugo. Ihr Kleid und ihr Hut sind mindestens zehn Jahre alt. Ich habe sie gefragt, ob sie verheiratet gewesen sei, und sie hat mir geantwortet:
›Das kommt darauf an, was sie unter verheiratet verstehen.‹
Sie hat mir gesagt, sie sei Künstlerin gewesen und habe unter dem Namen Lili France jahrelang Tourneen durch Osteuropa und Kleinasien gemacht. Sie wissen ja wohl, um was es sich dabei handelt.«
Agenturen in Paris engagierten früher solche Künstlerinnen. Man brachte ihnen einige Tanzschritte oder einige Lieder bei und schickte sie dann in die Türkei, nach Ägypten, nach Beirut, wo sie in Kabaretts die Animiermädchen spielten.
»Ist ihre Tochter auf solch einer Tournee geboren?«
»Nein, sie ist in Frankreich geboren, als ihre Mutter schon fast vierzig Jahre alt war.«
»In Nizza?«
»Soweit ich es habe verstehen können, ja. Es ist nicht leicht, jemand zu verhören, der unentwegt auf die kleine Roulettekugel starrt und dessen Finger sich jedesmal verkrampfen, wenn sie stehenbleibt. Schließlich hat sie kategorisch erklärt:
›Ich habe kein Verbrechen begangen, nicht wahr? Also lassen Sie mich in Frieden. Im übrigen habe ich Ihnen ja schon gesagt, daß ich bereit bin, Ihnen heute abend auf Ihre Fragen zu antworten.‹«
»Ist das alles, was du erfahren hast?«
»Nein. Die Kleine ist ihr vor vier Jahren weggelaufen und hat einen Brief hinterlassen, in dem sie ihr mitteilte, daß sie nicht zurückkommen werde.«
»Sie war da also fast sechzehn?«
»Genau sechzehn. Sie ist an ihrem Geburtstag auf und davon und hat ihrer Mutter nie wieder geschrieben.«
»Hat die Mutter nicht die Polizei benachrichtigt?«
»Nein. Ich glaube, sie war ganz froh, sie los zu sein.«
»Hat sie nie erfahren, was weiter aus ihr geworden ist?«
»Ein paar Monate später hat sie einen Brief von einer Mademoiselle Pore bekommen, die in der Rue du Chemin-Vert wohnt. Sie hat ihr geschrieben, sie sollte lieber auf ihre Tochter aufpassen und sie vor allem nicht allein in Paris lassen. Ich weiß Mademoiselle Pores Hausnummer noch nicht. Madame Laboine hat mir versprochen, sie mir heute abend zu sagen.«
»Ich weiß, wo ich sie finden werde.«
»Sind Sie schon im Bilde?«
Maigret warf Priollet, der dem Gespräch zuhörte, einen Blick zu. Dieselbe Auskunft kam jetzt von mehreren Seiten zugleich.
»Um welche Zeit hast du dich mit ihr verabredet?«
»Sobald sie wieder in Nizza ist. Es kann um sieben sein, es kann aber ebensogut Mitternacht werden.«
»Ruf mich dann gleich am Boulevard Richard Lenoir an.«
»Gut, Chef.«
Maigret legte den Hörer auf.
»Nach dem, was Feret berichtet«, sagte er, »ist die Person, bei der Janine Armenieu in der Rue du Chemin-Vert wohnte, eine Mademoiselle Pore, und sie hat Luise Laboine gekannt.«
»Gehst du dorthin?«
Maigret öffnete die Tür.
»Kommst du mit, Janvier?«
Ein paar Augenblicke später bestiegen sie das Auto und fuhren zur Rue du Chemin-Vert, wo sie vor der Kräuterhandlung hielten. Luciens Frau stand in dem dunklen Laden hinter der Theke, in dem es gut nach Johanniskraut roch.
»Was kann ich für Sie tun, Monsieur Maigret?«
»Sie kennen doch wohl Janine Armenieu?«
»Hat mein Mann es Ihnen gesagt? Ich habe gerade heute mittag mit ihm über sie gesprochen, weil ich den Bericht von der Hochzeitsfeier in der Zeitung gelesen hatte. Es ist ein außerordentlich schönes Mädchen.«
»Haben Sie sie schon lange nicht mehr gesehen?«
»Mindestens drei Jahre. Warten Sie, es war, bevor mein Mann seine Gehaltserhöhung bekam, also vor schon fast dreieinhalb Jahren. Sie war noch ganz jung, aber schon eine richtige Frau, und auf der Straße drehten sich alle Männer nach ihr um.«
»Sie wohnte im Nachbarhaus?«
»Ja, bei Mademoiselle Pore, einer guten
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