Maigret und die Unbekannte
hat sie mich unterbrochen:
›Gestatten Sie.‹
Sie hat Jetons auf ein Feld gelegt. Ich habe mich gefragt, ob sie rauschgiftsüchtig ist. Aber ich glaube es doch nicht. Sie ist sozusagen nur noch ein Apparat, verstehen Sie?«
Maigret verstand. Er kannte solche Frauen.
»Es dauerte eine ganze Weile, bis ich ihr einige Informationen aus der Nase ziehen konnte. Immer wieder sagte sie: ›Können Sie nicht bis heute abend warten, wenn ich wieder in Nizza bin? Ich werde Ihnen dann alle gewünschten Auskünfte geben. Ich habe nichts zu verbergen.‹«
Er saß jetzt auch über seinen Schreibtisch gebeugt und bedauerte sichtlich, daß sein Rundgang nicht länger gedauert hatte.
Maigret blätterte in Akten, machte sich Notizen, rief hin und wieder eine andere Abteilung an. Es war fast fünf Uhr, als Priollet zu ihm hereinkam. Bevor er sich setzte, fragte er:
»Störe ich dich auch nicht?«
»Nicht im geringsten. Ich erledige alte Sachen.«
»Erinnerst du dich an Lucien, einen meiner Inspektoren, der in deiner Nähe wohnt?«
Maigret erinnerte sich nur flüchtig an ihn. Es war ein kleiner Dicker mit pechschwarzem Haar, dessen Frau eine Kräuterhandlung in der Rue du Chemin-Vert besaß. Er hatte ihn im Sommer mehrmals vor dem Laden stehen sehen, wenn er mit seiner Frau zum Essen zu Dr. Pardon ging.
»Vor einer Viertelstunde habe ich ihn wie alle meine Männer für alle Fälle danach gefragt.«
»Nach Janine Armenieu?«
»Ja. Er hat mich stirnrunzelnd angeblickt.
›Seltsam‹, hat er gesagt, ›meine Frau hat beim Mittagessen gerade von ihr gesprochen.‹ Ich habe aber nur halb hingehört. Warten Sie, ich will versuchen, mich auf ihre Worte zu besinnen. Ach, ja: ›Erinnerst du dich noch an die hübsche Rothaarige mit den schönen Brüsten, die im Nachbarhaus wohnte? Sie hat soeben reich geheiratet. Für die Hochzeit haben sie ein ganzes Nachtlokal gemietet.‹
Meine Frau hat auch ihren Namen gesagt. Ja, ich weiß es genau, es war der Name Armenieu. Sie hat hinzugefügt:
›Sie wird wohl jetzt keine Blutegel mehr bei mir kaufen.‹«
Auch Maigret hätte ihr in dem Viertel begegnet sein können. Madame Maigret machte ihre Einkäufe in den gleichen Läden wie sie, denn sie besorgte alle Lebensmittel in der Rue du Chemin-Vert.
»Lucien hat mich gefragt, ob er sich damit befassen solle. Ich habe ihm geantwortet, du würdest bestimmt lieber die Sache selber in der Hand behalten.«
»Sie hatten recht.«
»Das mußt du mir etwas näher erklären.«
»Ich bin in allen Bars und Cafés gewesen.«
»Das sehe ich.«
»Erst an der Ecke der Rue Caumartin und der Rue Saint-Lazare ist sie in ein Lokal gegangen. Der Kellner, der sie bedient hat, heißt Eugen. Er ist kahlköpfig, wohnt in Becon-les-Bruyeres und hat eine Tochter in ungefähr dem gleichen Alter wie die Ermordete.«
Janvier drückte seine Zigarette im Aschenbecher aus und zündete sich eine neue an.
»Sie ist gegen halb elf hereingekommen und hat sich in eine Ecke dicht an der Kasse gesetzt. Es schien sie zu frieren, denn sie hat sich einen Grog bestellt. Als Eugen ihn ihr brachte, hat sie ihn um eine Telefonmünze gebeten und ist dann in die Zelle gegangen. Aber fast sofort ist sie wieder herausgekommen. Von da an hat sie bis Mitternacht mindestens zehnmal versucht, jemanden telefonisch zu erreichen.«
»Wie viele Grogs hat sie getrunken?«
»Drei. Alle paar Minuten ist sie wieder in die Zelle gegangen und hat eine Nummer gewählt.«
»Hat sie schließlich die Verbindung bekommen?«
»Das weiß Eugen nicht. Er war jedesmal darauf gefaßt, daß sie weinen würde. Aber sie hat es nicht getan. Zwischendurch hat er versucht, sie in ein Gespräch zu ziehen. Sie hat ihn jedoch nur stumm angeblickt. Sie sehen, das stimmt alles überein. Kurz nach zehn hat sie den Laden in der Rue de Douai verlassen. Dann ist sie zu Fuß in die Rue Caumartin gegangen und ist in dem Lokal, wo sie immer wieder zu telefonieren versuchte, bis kurz vor Mitternacht geblieben. Darauf hat sie sich zum Romeo begeben. Drei Grogs, das ist für ein junges Mädchen nicht wenig. Sie muß leicht beschwipst gewesen sein.«
»Und hatte kein Geld mehr in der Tasche«, bemerkte Maigret.
»Stimmt, ja, daran habe ich gar nicht gedacht. Was soll ich jetzt tun?«
»Hast du nichts anderes vor?«
»Nur das übliche.«
»Es war unrichtig, daß sie sagte, sie könne das Kasino nicht verlassen. Für diese Leute ist das fast zu einem Beruf geworden. Sie haben ein gewisses Kapital, das es ihnen
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