Maigret und die Unbekannte
Wahrheit zu sein.
Als sie kein Geld mehr hatte und man sie aus der Pension herausgeworfen hat, wo sie schlief, ist sie zu Janine gegangen, und Janine hat ihr angeboten, so lange, bis sie eine neue Stellung gefunden hätte, hier zu schlafen.
Janine hat nicht den Mut gehabt, mir etwas davon zu sagen. Sie hat ihre Freundin in meiner Abwesenheit in die Wohnung hereingelassen, und bis ich eingeschlafen war, versteckte sich Luise unter dem Bett meiner Nichte.
In den Wochen, in denen ich in der zweiten Schicht arbeitete, mußte sie bis halb elf unter dem Bett bleiben, da meine Arbeit dann erst um drei Uhr beginnt.«
Maigret bemühte sich krampfhaft, nicht zu lächeln, denn während der ganzen Zeit, die sie erzählte, ließ die Tante ihn nicht aus den Augen, und sie hätte ihm die kleinste Bekundung von Ironie gewiß sehr übelgenommen.
»Kurzum…«, sagte sie.
Es war mindestens das drittemal, daß sie dieses Wort wiederholte, und Maigret blickte unwillkürlich auf seine Uhr.
»Wenn es Sie langweilt…«
»Keineswegs.«
»Haben Sie eine Verabredung?«
»Ich habe noch Zeit.«
»Ich komme zum Schluß. Ich möchte Sie nur noch darauf aufmerksam machen, daß eine dritte Person monatelang alles, was ich gesagt habe, mit angehört hat, eine Abenteuerin, die ich überhaupt nicht kannte und die mein Kommen und Gehen belauerte. Ich lebte wie immer mein bescheidenes Leben, ohne zu ahnen…«
»Haben Sie an ihre Mutter geschrieben?«
»Woher wissen Sie das? Hat sie es Ihnen gesagt?«
Lognon machte ein enttäuschtes Gesicht. Er hatte die Spur Pore entdeckt, was ihn wahrscheinlich lange und mühselige Gänge gekostet hatte. Wie oft war er vom Regen klatschnaß geworden, weil er nicht einmal daran dachte, sich unterzustellen? Maigret dagegen hatte sein Büro nicht zu verlassen brauchen. Die Auskünfte flogen ihm zu, ohne daß er sich darum bemühte. Aber er war Mademoiselle Pore nicht nur zur gleichen Zeit wie Lognon auf die Spur gekommen, sondern schien noch mehr über den Fall zu wissen.
»Ich habe nicht gleich an ihre Mutter geschrieben. Zunächst einmal habe ich das Mädchen hinausgeworfen und ihr erklärt, sie solle es ja nicht wagen, sich hier wieder blicken zu lassen. Ich hätte sie doch sicherlich anzeigen können?«
»Wegen Hausfriedensbruch?«
»Und wegen des Essens, das sie mir in all den Monaten gestohlen hat. Als meine Nichte nach Hause kam, habe ich ihr deutlich gesagt, was ich von ihr und ihren Bekanntschaften denke. Janine taugte nicht viel mehr, denn ein paar Wochen später ist auch sie ausgezogen und hat sich ein Hotelzimmer genommen. Mademoiselle wollte ihre Freiheit haben, verstehen Sie? Um Männer empfangen zu können!«
»Sind Sie sicher, daß sie Männer empfing?«
»Warum sollte sie sonst das Verlangen gehabt haben, in ein Hotel zu ziehen, da sie hier doch Unterkunft und Essen hatte? Ich habe sie nach ihrer Freundin gefragt, und sie hat mir dann den Namen und die Adresse der Mutter genannt. Fast eine Woche lang habe ich gezögert, den Brief zu schreiben, aber schließlich habe ich es getan und mir sogar den Durchschlag aufgehoben. Ich weiß nicht, wie er auf sie gewirkt hat. Sie kann jedenfalls nicht behaupten, daß ich sie nicht gewarnt hätte. Wollen Sie den Brief sehen?«
»Nein, danke. Sind Sie, nachdem Ihre Nichte Sie verlassen hat, mit ihr in Verbindung geblieben?«
»Sie hat mich nicht nur kein einziges Mal besucht, sondern sie hat nicht einmal daran gedacht, mir zum neuen Jahr zu gratulieren. Ich nehme an, die ganze neue Generation ist so. Das wenige, das ich von ihr weiß, habe ich von meinem Bruder erfahren, der das alles herrlich findet. Sie versteht sich auf die Kunst, ihn einzuwickeln. Hin und wieder schreibt sie ihm, erzählt ihm, daß sie arbeite, daß sie gesund sei, und verspricht ihm jedesmal, daß sie ihn bald besuchen werde.«
»Ist sie nie wieder in Lyon gewesen?«
»Nur einmal zu Weihnachten.«
»Hat sie keine Geschwister?«
»Sie hat einen Bruder gehabt, der in einem Sanatorium gestorben ist. Kurzum…«
Maigret begann mechanisch, die ›kurzum‹ zu zählen.
»Sie ist mündig. Wahrscheinlich hat sie meinen Bruder von ihrer Heirat in Kenntnis gesetzt. Er hat mir allerdings nichts davon geschrieben. Ich habe es nur aus der Zeitung erfahren. Das seltsamste ist, daß ihre Freundin gerade nach ihrer Hochzeitsfeier ermordet worden ist. Finden Sie nicht auch?«
»Sahen sich die beiden immer noch?«
»Woher soll ich das wissen? Wenn Sie aber meine Meinung hören wollen,
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