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Maigret und die Unbekannte

Maigret und die Unbekannte

Titel: Maigret und die Unbekannte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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ihrer Frisur verbreiten. Aber ich habe ihr immerhin zu verstehen gegeben, wenn sie vermeiden wolle, daß man im Viertel mit dem Finger auf sie zeige, tue sie besser daran, sich schlichter zu kleiden und zu frisieren.
    Die Wohnung, in der ich nun schon seit zweiundzwanzig Jahren wohne, ist weder groß noch luxuriös, aber ich habe trotzdem zwei Schlafzimmer. Eins davon habe ich Janine zur Verfügung gestellt. Eine Woche lang bin ich mit ihr ausgegangen, um ihr Paris zu zeigen.«
    »Was hatte sie vor?«
    »Das fragen Sie noch? Einen reichen Mann finden, das hatte sie vor. Nach dem, was in der Zeitung steht, hat sie’s ja schließlich auch geschafft. Nur ich möchte nicht erleben, was sie erlebt hat.«
    »Hat sie eine Stellung gefunden?«
    »Als Verkäuferin in einem Ledergeschäft in der Nähe der Oper.«
    »Ist sie dort lange geblieben?«
    Sie wollte die Geschichte auf ihre Art erzählen und verbarg ihm das nicht.
    »Wenn Sie mich immerzu fragen, verliere ich den Faden. Ich werde Ihnen alles sagen, seien Sie unbesorgt. Also wir lebten hier beide zusammen. Genauer gesagt, ich bildete mir ein, wir lebten hier beide zusammen. Jede zweite Woche habe ich vormittags frei und in den anderen von drei Uhr nachmittags an. So gingen Monate dahin. Es war Winter, ein sehr kalter Winter. Ich machte weiter meine Besorgungen im Viertel, wie ich das gewohnt war. Und dann fing das mit dem Essen an. Ich begann Verdacht zu schöpfen, vor allem, weil die Butter immer so ungeheuer schnell verbraucht war. Mit dem Brot war es das gleiche. Manchmal vermißte ich im Speiseschrank den Rest von Fleisch oder Kuchen, von dem ich genau wußte, daß ich ihn hineingestellt hatte.
    ›Hast du das Kotelett gegessen?‹
    ›Ja, Tante. Ich hatte in der letzten Nacht etwas Hunger.‹
    Nun, ich will nicht alle Einzelheiten erzählen. Erst allmählich ist mir ein Licht aufgegangen. Erraten Sie’s? Die ganze Zeit lebte ohne mein Wissen eine dritte Person in meiner Wohnung.
    Kein Mann. Das will ich gleich sagen. Sondern ein Mädchen, ein halbes Kind noch. Die, von der das Bild in der Zeitung erschienen ist und die man auf der Place Vintimille tot aufgefunden hat. Unter uns gesagt, beweist das, daß ich recht hatte, mich zu beunruhigen. Denn so etwas passiert Menschen wie Ihnen und mir nicht.«
    Sie redete wie ein Buch, ohne auch nur einmal Atem zu holen. Die Hände auf dem flachen Bauch gefaltet, stand sie mit dem Rücken zum Fenster, und die Worte flossen aus ihrem Munde, als leiere sie einen Rosenkranz herunter.
    »Ich bin gleich fertig. Ich will Ihnen Ihre Zeit nicht stehlen, denn Sie sind bestimmt ein sehr beschäftigter Mann.«
    Sie wandte sich nur an Maigret. Lognon spielte in ihren Augen bloß eine Statistenrolle.
    »Eines Morgens, als ich in meiner Wohnung aufräumte, ist mir eine Garnrolle unter Janines Bett gerollt, und ich habe mich gebückt, um sie aufzuheben. Ich muß Ihnen gestehen, ich habe laut aufgeschrien. Und ich möchte wissen, was Sie an meiner Stelle gemacht hätten. Unter dem Bett lag jemand, der mich mit funkelnden Augen anblickte. Gott sei Dank war es eine Frau. Sonst hätte ich mich vor Angst nicht zu fassen gewußt.
    Für alle Fälle habe ich den Feuerhaken geholt und gesagt:
    ›Kommen Sie sofort da heraus!‹
    Sie war noch nicht einmal so alt wie Janine. Gerade sechzehn Jahre. Aber wenn Sie glauben, sie habe geweint und mich um Verzeihung gebeten, dann täuschen Sie sich. Sie starrte mich immer noch an, als ob ich eine Art Ungeheuer wäre.
    ›Wer hat Sie in die Wohnung hereingelassen?‹
    ›Ich bin eine Freundin Janines.‹
    ›Ist das ein Grund, daß Sie sich unter dem Bett verstecken? Was haben Sie da unter dem Bett gemacht?‹
    ›Ich habe gewartet, daß Sie fortgingen.‹
    ›Warum?‹
    ›Um ebenfalls fortzugehen.‹
    Können Sie sich das vorstellen, Herr Kommissar? Wochen-, ja monatelang ging das schon so. Sie war zur gleichen Zeit wie meine Nichte nach Paris gekommen. Die beiden hatten sich im Zug kennengelernt, und da sie dritter Klasse fuhren und nicht schlafen konnten, haben sie sich die ganze Nacht ihre kleinen Geschichten erzählt. Das Mädchen, das Luise hieß, hatte gerade soviel Geld, um zwei oder drei Wochen davon leben zu können.
    Sie hat in irgendeinem Büro Arbeit gefunden. Sie mußte die Marken auf die Briefe kleben, aber ihr Chef scheint ihr bald unsittliche Anträge gemacht zu haben, und sie hat ihm daraufhin eine Ohrfeige versetzt.
    Jedenfalls hat sie es mir so erzählt. Es braucht nicht unbedingt die

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