Maigret und die Unbekannte
hätte.«
Überrascht fragte Albert, ohne es zu wollen:
»Sie kannten sie?«
»Ich habe sie schließlich recht gut kennengelernt.«
Noch jetzt, während er sprach, sah er sie bei Mademoiselle Pore unter dem Bett versteckt liegen und sich dann mit Janine in ihrer Wohnung in der Rue de Ponthieu zanken. Er sah sie in der schmuddeligen Pension in der Rue d’Aboukir und vor dem Geschäft am Boulevard Magenta, wo sie in der Winterkälte verkaufte.
Er hätte jede der Bemerkungen wortwörtlich wiederholen können, die er über sie gehört hatte, die der Concierge ebenso wie die der Witwe Cremieux.
Er sah sie ins Maxim hineingehen und dann einen Moment später sich unter die Hochzeitsgäste im Romeo drängen.
»Zunächst einmal: Es ist mehr als wahrscheinlich, daß sie sich nicht an die Theke gesetzt hat.«
Weil sie spürte, daß sie hier nicht an ihrem Platz war, daß alle sie ansahen und auf den ersten Blick erkannten, daß sie ein billiges Kleid trug.
»Selbst wenn sie sich gesetzt hätte, hätte sie keinen Martini bestellt. Es war dein Fehler, daß du sie für irgendein Strichmädchen gehalten hast, und als ich dich fragte, was sie getrunken habe, hast du mechanisch geantwortet: ›Einen Martini.‹«
»Sie hat nichts getrunken«, gab Albert zu.
»Sie ist auch nicht in den Keller hinuntergegangen, um ihren Brief zu lesen. In solchen Bars wie deiner, in denen nur Stammpublikum verkehrt, pflegt kein Schild an der Treppe zu hängen. Aber selbst wenn dort eins hinge, bezweifle ich, daß sie den Mut gehabt hätte, an einigen zwanzig Gästen vorbeizugehen, die in der Mehrzahl zweifellos mehr oder weniger betrunken waren.
Schließlich haben die Zeitungen nicht das ganze Ergebnis der Autopsie veröffentlicht. Sie haben geschrieben, der Magen der Toten habe Alkohol enthalten, aber nicht gesagt, daß es sich um Rum handelte. Nun, Martini wird aber aus Gin und Wermut gemixt.«
Maigret triumphierte nicht. Vielleicht, weil er immer noch an Luise dachte. Er sprach halblaut, wie zu sich selbst.
»Hast du ihr wirklich den Brief übergeben?«
»Ich habe ihr einen Brief übergeben.«
»Du meinst einen Umschlag?«
»Ja.«
»Der ein leeres Blatt enthielt?«
»Ja.«
»Wann hast du den richtigen Brief geöffnet?«
»Als ich sicher war, daß Jimmy im Flugzeug saß, das ihn in die Vereinigten Staaten brachte.«
»Hast du ihn bis zum Flugplatz verfolgen lassen?«
»Ja.«
»Warum? Du wußtest doch gar nicht, worum es sich handelte.«
»Wenn jemand, der eben aus dem Gefängnis entlassen ist, sich die Mühe macht, den Ozean zu überqueren, dann muß das doch etwas Besonderes bedeuten.«
»Hast du den Brief aufgehoben?«
»Ich habe ihn vernichtet.«
Maigret glaubte es, weil er davon überzeugt war, daß Albert jetzt einsah, es habe keinen Zweck mehr, zu lügen.
»Was stand darin?«
»Ungefähr folgendes: ›Ich habe mich bisher vielleicht nicht viel um Dich gekümmert, aber Du wirst eines Tages erfahren, daß das besser für Dich war. Was man Dir auch sagt, urteile nicht zu streng über mich. Jeder wählt seinen Weg, oft in einem Alter, wo man noch nicht zu unterscheiden vermag, was richtig und was falsch ist, und hinterher ist es zu spät.
Du kannst der Person vertrauen, die Dir diesen Brief übergeben wird. Wenn Du ihn bekommst, bin ich tot. Das soll Dich nicht betrüben. Ich bin alt genug zum Sterben.
Ich habe den Trost, zu wissen, daß Du von nun an vor Not bewahrt bist. Sobald Du kannst, beantrage einen Paß für die Vereinigten Staaten. Brooklyn ist ein Vorort von New York, wie Du vielleicht in der Schule gelernt hast. Die unten angegebene Adresse ist die eines kleinen polnischen Schneiders namens… ‹ Ich kann mich nicht weiter erinnern…«
»Doch.«
»Na, schön, ›… namens Lukasek. Du wirst ihn aufsuchen, wirst ihm Deinen Paß zeigen, und er wird Dir eine Summe in Scheinen aushändigen… ‹«
»Ist das alles?«
»Es standen noch ein paar sentimentale Worte darin, die ich aber nicht behalten habe.«
»Hast du die Adresse behalten?«
»Ja, 1214, 37. Street.«
»Wen hast du in die Sache eingeweiht?«
Albert wollte wieder einmal schweigen. Aber Maigret blickte ihn immer noch so fest an, daß er sich in das Unvermeidliche schickte.
»Ich habe den Brief einem Freund gezeigt.«
»Wem?«
»Bianchi.«
»Lebt der immer noch mit der großen Jeanne zusammen?«
Bianchi stand im Verdacht, der Chef der korsischen Bande zu sein. Maigret hatte ihn mindestens zehnmal verhaftet, aber nur ein einziges Mal
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