Maigret verteidigt sich
mehr, Monsieur Maigret. Ich bin sehr betrunken, nicht wahr? Ich schäme mich. Ich kann nie mehr zu meinen Eltern zurück…«
Sie kamen im zweiten Stock an, und Maigret drehte tatsächlich den Schlüssel im Schloß.
»Schlafen Sie, ohne sich zu beunruhigen. Ich werde mich morgen früh mit der Sache befassen.«
In dem Zimmer stolperte sie, fiel hin und versuchte nicht, wieder aufzustehen. In wenigen Augenblicken würde sie eingeschlafen sein.
Er hob sie auf und zog ihr die Schuhe und die Jacke ihres Kostüms aus. Er wollte gerade gehen, als sie jammerte:
»Ich habe Durst!«
Er ging in einen kleinen Waschraum, spülte das Zahnputzglas aus und füllte es mit frischem Wasser. Als er zurückkam, saß sie auf dem Bett und bemühte sich, ihren Rock auszuziehen.
»Mein Strumpfhaltergürtel drückt mich…«
Sie trank das Wasser und starrte ihn dabei verzweifelt an.
»Wollen Sie mir nicht helfen? Wenn Sie wüßten, wie übel mir ist. Ich werde wohl brechen müssen…«
Er hatte ihr geholfen, sich zu entkleiden, und sie hatte nur ihr Hemd anbehalten.
Sie hatte sich nicht übergeben.
»Nun?« hatte ihn seine Frau gefragt, als er nach Hause gekommen war.
»Eine merkwürdige Geschichte… Man wird morgen weitersehen.«
»Ist es ein schönes Mädchen?«
»Ich muß gestehen, ich habe gar nicht darauf geachtet. Sie war sternhagelbetrunken.«
»Was hast du mit ihr gemacht?«
»Ich habe sie in ein Hotel gebracht, wo ich sie zu Bett bringen mußte.«
»Hast du sie ausgezogen?«
»Mir blieb nichts anderes übrig.«
»Hast du keine Angst?«
Madame Maigret hatte Ahnungen. Er war auch alles andere als froh. Als er um neun Uhr in sein Büro kam, rief er zunächst das ›Hôtel de Savoie‹ an, wo man ihm sagte, die Dame aus Zimmer Nr. 32 sei nicht mehr da. Sie hätte gesagt, Kommissar Maigret, der sie dorthin gebracht habe, werde die Rechnung bezahlen.
Zehn Minuten später sagte ihm der Telefonist der Kriminalpolizei, daß es in La Rochelle keinen Richter namens Carvet gab und daß auch kein Carvet im Telefonbuch stand. Ebenso kein Dubuisson.
Drittes Kapitel
»Sie vergessen: die Polizei, das bin ich!«
Maigret stand vor dem offenen Fenster, beide Hände in den Taschen, die Pfeife im Mund. Er hatte nicht den Mut gehabt, Nicole Prieurs Diktat noch einmal zu lesen. Lange hatte er niedergeschlagen und angewidert in seinem Sessel gehockt. Jede Kampflust war ihm vergangen. Er hatte sich wie ein Fremder in seinem Büro gefühlt, nur vage das Stimmengemurmel und das Kommen und Gehen im Büro der Inspektoren wahrgenommen.
Es blieben ihm noch drei Jahre bis zur Pensionierung. Auch Pardon hatte das betont. Warum? Weil er glaubte, daß er abgearbeitet war? Weil er, als er ihn untersuchte, etwas entdeckt hatte, das nicht in Ordnung war und worüber er nicht mit ihm sprechen wollte?
Er hatte ihm empfohlen, weniger zu trinken, ja, das Trinken überhaupt aufzugeben. Höchstens etwas Wein zu den Mahlzeiten. Bald würde man ihm eine Diät verordnen. Dann würde er zu bestimmten Stunden Pillen schlucken müssen. Er stand auf der Schwelle zur Welt der Greise, deren Organe eins nach dem anderen gebrechlich oder schwach werden. So wie alte Autos, bei denen man unaufhörlich einzelne Teile auswechseln muß. Aber für Menschen gibt es noch keine Ersatzteile. Er merkte gar nicht, wie die Zeit verstrich. Die Sonnenflecke im Büro auf dem Teppich und auf der Wand wanderten weiter, ohne daß er es bemerkte.
Er hatte nicht das geringste Verlangen, sich zu verteidigen. Er nahm die Niederlage hin. Einen langen Augenblick spürte er sogar eine gewisse Erleichterung. Keine Verantwortung mehr, keine aufreibenden Tage und Nächte, in denen man jemandem zusetzen mußte, dessen Geständnis der Schlußpunkt einer Untersuchung war.
»Sie vergessen: die Polizei, das bin ich!«
Vielleicht war es dieser kleine Satz, der ihn rettete. Er sah sich schon fast in Meung-sur-Loire, wo das Haus für sie bereit war, für seine Frau und ihn, mit dem Garten, den er bestellen würde wie seine Nachbarn, den Blumen und dem Gemüse, die er bei Sonnenaufgang und Sonnenuntergang friedlich sprengen würde, den Angelstöcken, die im Schuppen standen…
»Sie vergessen: die Polizei…«
Das paßte so gar nicht zu seinem Charakter, das hatte einen so falschen Ton, daß schließlich ein Lächeln sein Gesicht entspannte und der Augenblick kam, wo er langsam in die Wirklichkeit zurückkehrte. Er stand dort und betrachtete die belegten Brötchen, die er
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