Maigret verteidigt sich
den getippten Bericht mit. Der Kommissar begann ihn durchzulesen. Er las aber nur vier oder fünf Zeilen.
»Bist du sicher, nichts vergessen zu haben?«
»Ich habe es genau verglichen. Dennoch wäre es mir lieber, wenn…«
Nein! Maigret hatte keine Lust, sein Diktat noch einmal durchzulesen. Er unterschrieb, nahm einen amtlichen Umschlag aus seinem Schreibtisch, adressierte ihn und klingelte nach dem Bürodiener.
»Dies muß sofort von einem Polizisten ins Büro des Polizeipräfekten gebracht werden. Hast du inzwischen etwas erfahren, Janvier?«
»Ich habe einen meiner Freunde angerufen, einen Anwalt. Er hat häufig mit hohen Beamten zu tun.«
»Kennt er unseren Prieur?«
»Er ist ein erstklassiger Jurist, einer der besten, scheint es, unserer Zeit. Er war verheiratet, aber seine Frau ist vor etwa zehn Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Ihr Vater war Reeder.«
»In La Rochelle?«
»Sie haben es erraten.«
Sie lächelten beide. Es kommt selten vor, daß jemand, der lügt, alles erfindet. Das junge Mädchen mit der rührenden Geschichte am Telefon hatte gesagt, sie sei aus La Rochelle. Ihr Vater sei Richter, und ihre Schulfreundin die Tochter eines Fischhändlers.
»Und weiter?«
»Es lebt dort noch ein Bruder, der auch Reeder ist. Er verfügt über ein persönliches Vermögen und hat eine große Wohnung am Boulevard de Courcelles. Ein weiterer Bruder, Christoph, der verheiratet war, eine Tochter hatte und in Marokko lebte, hat sich aus Gründen, die mein Freund nicht kennt, das Leben genommen. Seine Frau ist von der Bildfläche verschwunden. Sie soll einen Amerikaner geheiratet haben und in Texas wohnen. Die Tochter ist Nicole Prieur, die Sie kennen.«
»Sonst nichts?«
»Das Mädchen hat im letzten Jahr das Abitur gemacht und studiert an der Sorbonne.«
»Was für eine Art von Mädchen ist sie?«
»Mein Freund ist ihr noch nie begegnet. Aber er glaubt, seine Frau habe sie irgendwo gesehen. Er wird, wenn er nach Hause kommt, mit ihr darüber sprechen.«
Kein Grund für Jean-Baptiste Prieur, den Berichterstatter im Staatsrat und bedeutenden Juristen, Maigret zu hassen, dessen Namen er vielleicht nicht einmal kannte. Und warum sollte er gegen Maigret intrigieren, was nur dem Ruf seiner Nichte schaden konnte.
»Ich würde viel darum geben, mich mit diesem Mädchen unter vier Augen unterhalten zu können.«
»Ich fürchte, Chef, dazu wird man Ihnen keine Gelegenheit geben.«
»Hast du eine Idee, wer ein Interesse daran haben könnte, diese Affäre aufzuziehen, um mich kaltzustellen?«
»Sie sind bestimmt vielen Leuten ein Dorn im Auge. Ganz zu schweigen von denen, die seit zwei Monaten am hellichten Tage Juwelierläden ausrauben. Erst heute morgen wieder in der Avenue Victor Hugo…«
»Haben sie Spuren hinterlassen?«
»Nichts.«
»Haben sie geschossen?«
»Auch nicht. Sie sind seelenruhig im Wagen wieder abgefahren, und niemand hat schnell genug reagiert, nicht einmal der Juwelenhändler, der so erregt war, daß er eine Minute gebraucht hat, ehe er die Alarmvorrichtung auslöste. Denken Sie an etwas?«
»Vielleicht. Wo war ich gestern vormittag um elf Uhr?«
Janvier wußte es, denn er hatte das kleine schwarze Auto gesteuert.
»Bei Manuel.«
»Und am Tage davor zur gleichen Zeit?«
»Bei Manuel.«
»Und…«
Dreimal in einer Woche war Maigret bei Manuel Palmari, dem ehemaligen Besitzer des ›Clou Doré‹ in der Rue Fontaine, gewesen, der jetzt als Rentier in einer eleganten Wohnung in der Rue des Acacias lebte.
»Es ist vielleicht verrückt, aber ich hätte Lust, noch einmal zu ihm zu fahren, um ihm einige Fragen zu stellen.«
Es war wirklich verrückt, aber waren die Ereignisse in der letzten Nacht nicht auch verrückt?
Palmari, der gewöhnlich Manuel genannt wurde, war dreißig Jahre lang der ungekrönte König vom Montmartre gewesen, wo er als junger Zuhälter angefangen hatte.
Hatte er zu jener Zeit, in der der junge Maigret ihn kennengelernt hatte, noch einen anderen ›Beruf‹ gehabt? Der Kommissar, der damals noch Inspektor war, hatte ihn stark verdächtigt, ihn aber nie ertappen können.
Während dieser dreißig Jahre waren viele Gauner aus der Gegend der Pigalle verschwunden. Die einen waren von Rivalen umgebracht worden. Anderen war, nachdem sie eine mehrjährige Gefängnisstrafe abgebüßt hatten, die Aufenthaltserlaubnis entzogen worden. Wieder andere hatten einen mehr oder weniger zweideutigen Gasthof zwischen Marseille und Nizza aufgemacht.
Manuel, der
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