Maigret verteidigt sich
verschmäht hatte. Er nahm eins, aß einen ersten Bissen und öffnete die Bierflasche. Er aß vor dem Fenster stehend, wobei er die Seine durch das reglose Laub der Bäume am Ufer betrachtete.
Er nahm endlich wieder Kontakt mit der Außenwelt auf, mit den Passanten, die irgendwohin gingen, einem jungen Paar, das sich umschlungen hielt, langsam den Pont Saint-Michel überquerte und in der Mitte der Brücke stehenblieb, um einen Schleppzug vorüberfahren zu lassen, um das Wasser fließen zu sehen, um irgend etwas zu betrachten. Ihre Lebensfreude zählte. Sie küßten sich.
Nebenan klapperten Schreibmaschinen. Die Inspektoren blickten gewiß von Zeit zu Zeit fragend zu der Tür ihres Chefs und wechselten beunruhigte Blicke.
Er kehrte zu seinem Schreibtisch zurück, um den letzten Satz der Aussage von Nicole Prieur zu lesen.
»Er hat mich nicht mißbraucht. Ich nehme an, im letzten Augenblick hat er Angst bekommen.«
Er stopfte sich eine Pfeife und ging mit festeren Schritten zum Fenster zurück, wobei seine Augen auffunkelten. Dann seufzte er und öffnete schließlich die Tür zum Büro nebenan.
Lucas war nicht da. Viele andere waren irgendwo in Paris unterwegs. Der junge Lapointe hatte Urlaub. Janvier tippte einen Bericht auf der Schreibmaschine. Die Anwesenden wußten, daß er dort stand und sie musterte. Aber sie wagten aus Diskretion nicht, den Kopf zu heben. Denn wenn der Kommissar sich so lange in seinem Büro vergrub, mußte etwas Ernstes vorgehen.
Die Uhr zeigte drei.
»Komm bitte mit deinem Block in mein Zimmer, Janvier.«
Janvier war neben Lapointe der beste Stenograph der Abteilung. Und gleich darauf betrat er das Büro. Er schloß die Tür hinter sich. In seinem Blick war eine Frage, die er jedoch nicht zu stellen wagte.
»Setz dich! Ich diktiere…«
Es war weniger lang, als er es vorausgesehen hatte. Noch vor einer Stunde hätte er alles näher erklärt und sich in Hypothesen ergangen. Jetzt beschränkte er sich auf Tatsachen, vermied alles, was einem Kommentar gleichen konnte.
Je länger er diktierte, desto ernster wurde Inspektor Janvier. Er runzelte die Brauen und warf hin und wieder seinem Chef einen beklommenen Blick zu. Zwanzig Minuten genügten.
»Du wirst das in drei Exemplaren tippen!«
»Gut, Chef.«
Maigret zögerte ein paar Sekunden. Der Polizeipräfekt hatte ihn zu sich gebeten, um ihm vor allem einzuschärfen, über diese Affäre mit niemandem zu sprechen.
»Lies.«
Er schob ihm die Aussage des jungen Mädchens hin. Nachdem er zwanzig Zeilen gelesen hatte, wurde Janvier rot, so wie Maigret am Morgen in der Polizeipräfektur errötet war.
»Wer hat…?«
Braver Janvier! Lucas und er arbeiteten am längsten mit Maigret zusammen, und die drei Männer brauchten nicht viele Worte, um sich zu verstehen.
Ohne sich erst die Zeit zu nehmen, nachzudenken, stellte Janvier sofort die gleiche Frage, für die Maigret länger gebraucht hatte, weil ihn die Sache persönlich betraf.
»Wer?«
»Das möchte ich eben gern wissen… Wer?«
Sie hatten oft mit mehr oder weniger Nymphomaninnen und mehr oder weniger hysterischen Frauen zu tun, die immer wieder am Quai des Orfevres erschienen, um ihre kleine Szene zu spielen. Manche waren geradezu Stammgäste. Man sah sie zu bestimmten Zeiten wieder.
Maigret hatte natürlich diese Möglichkeit ins Auge gefaßt, aber eine Verrückte hätte ihre Doppelrolle nicht so geschickt gespielt, ohne sich durch irgend etwas zu verraten. Diese Doppelrolle hatte ihr jemand einstudiert.
»Während du den Bericht tippst, werde ich ein Experiment machen. Ich glaube, ich kenne das Ergebnis schon im voraus.«
Janvier auch, der gleich erraten hatte, was Maigret meinte.
»Sprich aber nicht mit deinen Kollegen über den Fall. Der große Manitu betrachtet ihn als ein Staatsgeheimnis. Wenn dir Zeit bleibt, versuche dich über Jean-Baptiste Prieur zu informieren.«
In dem Augenblick, als Maigret das Zimmer verlassen wollte, murmelte Janvier:
»Sie ärgern sich doch hoffentlich nicht darüber, Chef?«
»Ich habe meinen Rücktritt angeboten.«
»Hat er ihn abgelehnt?«
»Er hat gesagt, er müßte ihn eigentlich annehmen, aber…«
»Und?«
»Ich bleibe, solange man mich nicht hinauswirft. Ich bin entschlossen, mich zu verteidigen!«
Ein Taxi brachte ihn zunächst in die Rue des Seine, wo er lässig die Tür der Bar ›Chez Desiré‹ aufstieß. Der Wirt stand hinter der Theke und bediente eine Gruppe von Gipsarbeitern in weißen Kitteln, die einen Schoppen
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