Maigret verteidigt sich
gegangen.
»Wie war die Untersuchung?«
»Er war zufrieden.«
Genau in diesem Augenblick natürlich mußte sich der Himmel über Paris öffnen und das Wasser ausschütten, das er in der wochenlangen Hitze aufgespeichert hatte.
»Sollen wir uns in eine Toreinfahrt stellen?«
Zehn Tage waren inzwischen vergangen, seit die Maigrets bei den Pardons zu Abend gegessen hatten. Wieder war es heiß. Leute begannen in Urlaub zu fahren. Der Kommissar arbeitete in Hemdsärmeln in seinem Büro, dessen Fenster weit offenstand, und die Seine sah genauso graugrün aus wie das Meer an manchen windstillen Tagen.
Um halb elf, als Maigret die Berichte seiner Mitarbeiter durchsah, klopfte Joseph, der alte Bürodiener, in einer Art an die Tür, die jeder im Hause kannte. Ohne die Antwort abzuwarten, trat er ein und legte einen Brief auf den Schreibtisch des Kommissars.
Maigret runzelte die Brauen, als er den Aufdruck sah: Der Polizeipräfekt. In dem Umschlag steckte eine Karte.
»Kommissar Maigret wird gebeten, sich am 28. Juni um elf Uhr im Büro des Herrn Polizeipräfekten einzufinden.«
Das Blut stieg Maigret in die Wangen wie einst dem Gymnasiasten, wenn er zum Direktor gerufen wurde. Der 28. Juni… Er blickte unwillkürlich auf den Kalender. Heute war Dienstag, der 28. Juni. Und es war halb elf. Der Brief war nicht mit der Post gekommen, sondern von einem Polizisten gebracht worden.
In den mehr als dreißig Jahren, die er der Kriminalpolizei angehörte, war es das erstemal, daß man ihn so vorlud.
Er hatte ein gutes Dutzend Polizeipräfekten nacheinander erlebt, mit denen er mehr oder weniger gut ausgekommen war. Einige von ihnen waren so kurz auf ihrem Posten geblieben, daß er gar nicht die Gelegenheit gehabt hatte, mit ihnen zu sprechen.
Andere riefen ihn an, baten ihn zu sich, und es handelte sich fast immer um einen delikaten, selten um einen angenehmen Auftrag: dem Sohn oder der Tochter einer hohen Persönlichkeit oder gar der hohen Persönlichkeit selbst aus der Patsche zu helfen.
Seine erste Reaktion war, zum Leiter der Kriminalpolizei zu stürzen, der bestimmt informiert war. Beim Rapport am gleichen Morgen hatte er jedoch nichts zu Maigret gesagt, wie immer nur ein paar Fragen gestellt, ohne ihnen Bedeutung beizumessen.
Er war erst vor drei Jahren zum Leiter der Kriminalpolizei ernannt worden, ohne jede Berufserfahrung. Die Kriminalpolizei kannte er höchstens aus Romanen. Er war ein hoher Beamter, der in verschiedenen Ministerien tätig gewesen war.
Maigret erinnerte sich noch an die Zeit, da der Leiter der Kriminalpolizei unter den Kommissaren ausgewählt wurde. Seine Kollegen hatten ihn manchmal damit gehänselt, indem sie sagten, er würde eines Tages im Sessel des großen Chefs sitzen.
Er ging mit sorgenvoller Miene ins Nebenzimmer und sagte zu seinen Mitarbeitern: »Wenn ich verlangt werde, ich bin beim Polizeipräfekten.«
Mindestens zwei der Männer blickten überrascht zu ihm auf. Lucas und Janvier, die ihn besser kannten als die anderen, hatten die Unruhe und schlechte Laune in Maigrets Stimme bemerkt.
Die Pfeife im Mund, stieg er die große staubige Treppe hinunter, ging durch die Toreinfahrt, winkte dem wachhabenden Polizisten zu, ging dann den Quai des Orfevres entlang und bog ein kleines Stück weiter in den Boulevard du Palais ein.
Fast wäre er, bevor er dem großen Manitu gegenübertrat, in die Bar gegenüber gegangen, hätte irgend etwas getrunken, ein Bier, einen Weißwein, einen Aperitif, aber genau in diesem Augenblick mußte er an das letzte Abendessen bei den Pardons denken – an die Geschichte mit den Zigaretten, an die Konsultation neben dem Klappbett.
Die Posten erkannten ihn. Er betrat den Fahrstuhl.
»Zum Büro des Polizeipräfekten.«
»Haben Sie eine Vorladung?«
Er zeigte sie nur widerwillig. Konnte hier nicht herkommen, wer wollte? Man führte ihn in ein Wartezimmer, das er gut kannte.
»Warten Sie bitte.«
Als ob ihm etwas anderes übrigbliebe. Dieser Polizeipräfekt war auch neu. Erst zwei Jahre im Amt, ein noch junger Mann. Das war heute so Mode. Er war noch nicht vierzig Jahre alt, aber da er studiert und eine ganze Menge Diplome erworben hatte, hatte er Anspruch auf eine führende Stellung in irgendeiner Behörde.
Nach seiner ersten Pressekonferenz hatten ihn die Zeitungen ›Der Besen‹ genannt. Denn die Polizeipräfekten gaben wie Filmstars jetzt Pressekonferenzen, zu denen sie das Fernsehen nicht einzuladen vergaßen.
»Messieurs, Paris muß eine
Weitere Kostenlose Bücher