Maigret zögert
mit ihrem Gatten überrascht?«
»Ich bin nicht so sicher. Einmal, es war kurz vor Weihnachten, und wir dachten, sie sei beim Friseur, trat sie in einem ziemlich heiklen Augenblick ins Zimmer. Wir hatten gerade noch Zeit, uns ein wenig zu fassen, so denke ich wenigstens, aber sicher ist das nicht. Sie gab sich dann ganz natürlich, sprach mit ihrem Mann über das Weihnachtsgeschenk, das sie für Gus gekauft hatte.«
»In ihrem Benehmen Ihnen gegenüber hat sich nichts geändert?«
»Nein. Sie ist freundlich zu allen. Es ist ein wenig so, als schwebe sie über uns, um uns zu schützen. Im stillen nenne ich sie manchmal den Engel.«
»Sie mögen sie nicht?«
»Ich würde sie nicht zur Freundin wollen, wenn Sie das meinen.«
Eine Klingel ertönte, und das Mädchen sprang auf.
»Sie entschuldigen mich? Der Chef ruft...«
Sie schnappte sich einen Stenoblock und einen Bleistift und war schon zur Tür hinaus.
Maigret war allein im Büro und schaute hinunter auf den Hof, der noch im Schatten lag und wo der Chauffeur den Rolls jetzt ablederte und dabei einen Schlager vor sich hinpfiff.
Mademoiselle Vague kam nicht wieder, und Maigret blieb auf seinem Stuhl neben dem Fenster sitzen und wartete geduldig, obschon er es sonst hasste zu warten! Er hätte ans Ende des Flurs in das von Tortu und Julien Baud besetzte Büro hinübergehen können, aber er war wie gelähmt, blickte mit halbgeschlossenen Lidern bald auf diesen, bald auf jenen Gegenstand.
Der Tisch, der als Schreibtisch diente, stand auf schweren, mit bescheidener Schnitzerei verzierten Eichenfüßen; sicher hatte er einst in einem anderen Raum gestanden. Mit den Jahren war die Oberfläche glänzend geworden. Eine beige Schreibunterlage mit Lederecken lag darauf. Die Federschale war sehr einfach, aus Plastik, und enthielt Füllhalter, Bleistifte, einen Radiergummi und ein Radiermesser. Ein Wörterbuch lag neben der Schreibmaschine.
Auf einmal zog er die Augenbrauen zusammen, erhob sich fast widerwillig und ging zu dem Tisch, um ihn aus nächster Nähe zu betrachten. Er hatte sich nicht getäuscht. Man sah eine feine, noch frische Kerbe, wie sie ein spitzes Radiermesser beim Zerschneiden eines Blatts Papier hinterlässt.
Vor der Federschale lag ein flaches Lineal aus Metall.
»Haben Sie es auch bemerkt?«
Er fuhr zusammen. Mademoiselle Vague war wieder hereingekommen. Den Stenoblock hatte sie noch in der Hand.
»Wovon sprechen Sie?«
»Von der Kerbe. Ist es nicht jammerschade, einen so schönen Tisch zu ruinieren?«
»Sie wissen nicht, wer das getan hat?«
»Das kann jeder getan haben, der Zugang zu diesem Büro hat, und den hat ja jeder. Ich habe Ihnen doch gesagt, dass hier jeder ein und aus geht, als sei er zu Hause.«
Nun würde er nicht mehr suchen müssen. Schon gestern hatte er sich vorgenommen, alle Tische im Haus zu überprüfen, denn er hatte festgestellt, dass der Briefkopf so säuberlich wie mit einer Schneidemaschine abgeschnitten worden war.
»Wenn es Ihnen nichts ausmacht... Monsieur Parendon hätte Sie gern einen Augenblick gesprochen.«
Maigret bemerkte, dass der Stenoblock nicht beschrieben war.
»Haben Sie ihm von unserem Gespräch berichtet?«
Ohne jede Verlegenheit antwortete sie:
»Ja.«
»Auch dass wir über Ihre intimen Beziehungen gesprochen haben?«
»Natürlich.«
»Hat er Sie deshalb gerufen?«
»Nein. Er hatte mich tatsächlich etwas zu fragen, wollte eine Auskunft über die Akte, die er gerade bearbeitet.«
»Ich bin gleich wieder da. Danke, ich komme allein zurecht.«
Sie lächelte.
»Hat er Ihnen nicht gesagt, dass Sie sich hier ganz wie zu Hause fühlen sollen?«
Er klopfte also an die hohe Eichentür, schob einen Flügel auf und sah den kleinen Mann hinter seinem riesigen Schreibtisch sitzen, der an diesem Morgen mit amtlich aussehenden Dokumenten bedeckt war.
»Treten Sie ein, Monsieur Maigret... Verzeihen Sie, dass ich Sie gestört habe... Übrigens wusste ich gar nicht, dass Sie bei meiner Sekretärin waren. Sie wissen nun also schon ein bisschen besser Bescheid über unser Haus... Wäre es indiskret, Sie zu bitten, einen Blick auf den zweiten Brief werfen zu dürfen?«
Maigret reichte ihn ihm mit einer freundlichen Geste, und er hatte den Eindruck, dass das bleiche Gesicht aschfahl wurde. Die blauen Augen hinter den dicken Brillengläsern hörten auf zu funkeln und starrten Maigret ängstlich fragend an.
»Vom diesem Augenblick an kann das Verbrechen jede Stunde begangen werden... Glauben Sie
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