Maigret zögert
Mademoiselle Vagues Büro und kehrte dann in sein Zimmer zurück.«
Maigret hatte sich gestern also doch getäuscht, als er, weil der anonyme Briefschreiber sich so genau ausdrückte, geglaubt hatte, das Wort »zuschlagen« wörtlich nehmen zu müssen.
Man hatte nicht zugeschlagen. Man hatte auch nicht geschossen. Man hatte buchstäblich die Kehle durchgeschnitten.
Er musste zur Seite treten, um die Leichenträger vorüberzulassen. Wenige Augenblicke später klopfte er an die hohe Tür von Parendons Arbeitszimmer. Er bekam keine Antwort. Allerdings war die Tür aus dickem Eichenholz. Er drehte am Türknauf des einen Flügels, stieß ihn auf und entdeckte den Anwalt in einem der Ledersessel.
Eine Sekunde lang befürchtete er, dass auch ihm ein Unglück widerfahren sei, denn er war so in sich zusammengesunken, das Kinn ruhte auf seiner Brust, und eine Hand hing schlaff bis auf den Teppich herunter.
Er tat ein paar Schritte und ließ sich ihm gegenüber in einem Sessel nieder, so dass sie einander sehr nahe saßen und sich direkt ins Gesicht sehen konnten, wie bei ihrer ersten Unterhaltung. Auf den Bücherrücken in den Regalen glänzten in goldener Schrift die Namen von Lagache, Henri Ey, Ruyssen und anderen Psychiatern.
Er erschrak ein bisschen, als er eine Stimme flüstern hörte:
»Was sagen Sie dazu, Monsieur Maigret?«
Die Stimme war tonlos, klang sehr fern. Die Stimme eines völlig gebrochenen Menschen. Der Anwalt machte sich nicht die Mühe, sich aufzurichten oder den Kopf zu heben. Plötzlich fiel seine Brille zu Boden, und ohne die dicken Gläser waren seine Augen wie die eines verängstigten Kindes. Er bückte sich mühevoll, um sie aufzuheben, und setzte sie wieder auf.
»Was geht dort vor?« fragte er und deutete mit seiner weißen Hand zu Mademoiselle Vagues Büro hin.
»Die Formalitäten sind abgeschlossen.«
»Und... und die Leiche?«
»Die Leiche wurde gerade abtransportiert.«
»Sorgen Sie sich nicht um mich. Ich werde mich schon wieder fangen.«
Mechanisch tastete er mit der rechten Hand nach seinem Herzen, während der Kommissar ihn wie bei ihrem ersten Treffen anstarrte. Er gab sich einen Ruck, richtete sich wieder auf und zog ein Taschentuch hervor, mit dem er sich über das Gesicht fuhr.
»Wollen Sie nicht etwas trinken?«
Sein Blick wanderte zu der Stelle, wo sich hinter der Holztäfelung die kleine Bar versteckte.
»Sie auch?«
Maigret war froh, aufstehen zu können, und holte zwei Gläser und den Flakon mit dem alten Armagnac, den er schon kannte.
»Es war kein Scherz«, sagte der Anwalt langsam.
Und obwohl sich seine Stimme wieder gefestigt hatte, klang sie fremd, tonlos, schnarrend wie eine Maschine.
»Jetzt sitzen Sie ganz schön in der Tinte, nicht wahr?«
Und da Maigret ihn immer noch stumm ansah, fügte er hinzu:
»Was werden Sie tun?«
»Zwei meiner Männer sind dabei festzustellen, was jeder hier im Haus zwischen Viertel nach neun und zehn Uhr getan hat.«
»Es war vor zehn Uhr.«
»Ich weiß.«
»Zehn Minuten vor zehn. Es war genau zehn Minuten vor zehn, als Tortu mir die Nachricht brachte.«
Er sah auf die bronzene Pendeluhr, die jetzt elf Uhr fünfunddreißig anzeigte.
»Seither haben Sie diesen Sessel nicht mehr verlassen?«
»Ich bin Tortu durch den Flur gefolgt, aber ich konnte den Anblick nicht länger als ein paar Sekunden ertragen. Ich kam hierher zurück... Sie haben recht... Ich habe mich nicht mehr aus diesem Sessel gerührt.
Ich kann mich vage erinnern, dass Martin, mein Hausarzt, hereinschaute und etwas zu mir sagte, woraufhin ich den Kopf schüttelte. Er maß mir den Puls und ging dann, als habe er es sehr eilig.«
»Er musste zu seiner Sprechstunde ins Krankenhaus, deshalb.«
»Er dachte sicher, ich hätte mich mit Drogen betäubt.«
»Haben Sie schon einmal Drogen genommen?« »Noch nie. Ich kann mir denken, wohin so etwas führt.«
In den Bäumen draußen rauschte ein leichter Wind, und von der Place Beauveau drang der Lärm der Autobusse herauf.
»Ich hätte nie gedacht...«
Er sprach stockend, ohne seine Sätze zu vollenden, und Maigret ließ ihn auch jetzt nicht aus den Augen. Er hatte immer zwei Pfeifen bei sich, und er holte die, die nicht beschädigt war, aus der Tasche, stopfte sie und nahm ein paar tiefe Züge, die ihn wohl in die Realität zurückbringen sollten.
»Was hätten Sie nie gedacht?«
»Dieses Ende... auf diese Art... Die Tragweite, ja, das ist das richtige Wort... die Tragweite der Beziehungen ...«
Seine
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