Make new Memory oder wie ich von vorn begann (German Edition)
nicht!“
„ Bitte beruhigen Sie sich.“
Nori zieht hörbar die Luft ein, atmet tief. Dann setzt er sich.
„ Ich liege die ganze Nacht wach. Doc, manchmal spuken mir Gewaltfantasien im Kopf herum – ich bekomme es mit der Angst zu tun, vor meinen eigenen Gedanken. Wie kommen die in meinen Kopf? Und soll ich Ihnen verraten, was das Grausamste ist? Ich bin mir meiner Verletzlichkeit jederzeit völlig bewusst. Ich bin wie eine offene Wunde. Aber ich kann nichts dagegen tun. Ich bin ständig in Alarmbereitschaft. Nichts entgeht mir. Kein Blick, kein Wort. Die Nächte sind das Schlimmste. Wenn es ruhig wird. Wenn die Gedanken ungestört kreisen können. Ich erlebe die Situationen immer wieder. Plane meine grausame Rache. Wieso muss ich anders sein? Das Fettauge auf der Suppe? Warum ist mir die Anerkennung von Menschen, die mir nichts bedeuten, so wichtig? Und wenn es mir gelingt, den anderen zu zeigen, wie besonders ich bin, kommt die Angst. Die Angst, dass sie merken, dass ich nur eine feige Sau bin. Ein Poser! Ich hasse die Gesellschaft von Menschen, Doc. Aber ich brauche sie. Wer sollte mir sonst sagen, dass ich toll bin. Es strengt mich so sehr an, die Fassade aufrechtzuerhalten. Wieso bemerkt niemand die Bitterkeit in meinen Worten? In meinen Scherzen? All der Schmerz. Zugegeben, ich habe es perfektioniert. In guten Momenten kann ich fast daran glauben, dass es vorbei ist. Doch mit der Ruhe der Nacht kommt die Bestie wieder über mich.
Als ich die Musik entdeckte, war ich noch zu jung, um die englischen Texte zu verstehen. Heute weiß ich, sie handeln von Liebe. Der Liebe und ihrer Macht, alle Grenzen zu überwinden. Ihrer heilenden Kraft. Das ist so kitschig. Pure romantische Verklärung. Aber es rührt mein Herz, wie es nichts anderes vermag. Die dreieinhalb Minuten, die ein guter Popsong dauert, lassen mich meine innere Leere vergessen.
Ich will mich doch nur wieder auf die Schienen stellen und abfahren.“
„ Sie sehen die Schuld für Ihre Ängste bei Ihrer Mutter?“
„ Nach dem Unfall meines Vaters war ich Luft für sie. Sie hat es nie ausgesprochen, aber ich weiß es: Sie gab mir die Schuld. Verdammt, ich war doch nur ein Kind! Als ich alt genug war, zog ich in eine Wohnung in der Stadt. Bis zu ihrem Tod haben wir nicht mehr miteinander gesprochen.“
Als ich nach Hause hinke, schmutzig und verschwitzt, heule ich nicht. Ich bin zu wütend. In der Küche wartet meine Mutter mit dem Essen. Wie ein Heimkehrer vom Russland-Feldzug komme ich mir vor, als ich im Türrahmen stehen bleibe, um ihr Gelegenheit zu geben, mich anzusehen. Ich weiß nicht genau, welche Reaktion ich erwarte. Häme?
„ Du kommst spät“, sagt sie mechanisch.
Dann schaut sie mich an, und ihre Augen weiten sich vor Schreck. Sie springt auf und schließt mich ganz fest in ihre Arme. Ich lasse meine Deckung fallen und heule Rotz und Wasser.
Diese Umarmung war es wert.
Wenn es mir nicht gut geht, lässt meine Mutter mir immer Badewasser ein. So auch jetzt. Mit ganz viel Schaum, weil sie das Schaumbad nicht einfach nur ins fließende Wasser gießt, sondern es mit der Hand verrührt wie mit einem Schneebesen. Fichtenduft. Als ich in der Wanne liege, meine Wunden lecke, kommt mein Vater von der Arbeit. Obwohl das Badezimmer am hinteren Ende des Hauses liegt, weit entfernt von der Küche, höre ich ihn brüllen:
„ Niemand schlägt meinen Sohn!“
Wir werden auch später nicht darüber reden. Ist auch gar nicht nötig. Und da beschließe ich, dass das Leben meines Vaters mehr wert ist als das Leben Tausender Fremder. Papas Leben und meines!
Als ich aus dem Bad komme, steht mein Vater mit einer Tüte unter dem Arm in der Waschküche.
„ Ich habe dir was besorgt“, sagt er, und reicht sie mir.
Ich fische ein in Seidenpapier geschlagenes Bündel hervor, das ich auf die Waschmaschine lege, und auswickle. Es ist ein schwarzer Anzug.
„ Damit du auf deiner Fete cool aussiehst. Im Schrank deines Bruders wirst du nichts finden, was dir passt“, erklärt Papa.
Das Wort „cool“ kommt ihm so eckig über die Lippen, das ich lachen muss.
„ Ich hab dich lieb“, sage ich.
„ Ich dich auch“, sagt er.
Später liege ich im Frotteemorgenmantel auf dem Sofa und schaue
Die Goonies
. Zusammen mit meinem Vater, der den Film extra für mich besorgt hat. Er sitzt bei mir, ist aber nach den ersten Minuten eingeschlafen. Heute hat er das Haus nicht mehr verlassen – nur wegen mir, bilde ich mir ein. Mama bringt
Weitere Kostenlose Bücher