Make new Memory oder wie ich von vorn begann (German Edition)
mir zu essen und ich aale mich wie die Made im Speck unter der Wolldecke, die sie mir überwirft.
Ich kenne den Film nahezu auswendig, und meine Gedanken schweifen ab. Hin zu dem, was Martin heute sagte. Über Bettina. Irgendwann bin ich wohl auf dem Sofa eingeschlafen, wie ich es sonst nur kann, wenn ich betrunken bin.
In dieser Nacht fliege ich. Fliege mit meinem BMX-Rad vor einem riesig großen Vollmond dahin. In einem Korb an meinem Lenkrad sitzt eine kleine Gestalt, verhüllt mit einer Decke. Sie macht es, dass wir fliegen. Unter uns liegt nebliger Wald. In den dunklen Baumkronen sitzt das
London Philharmonic Orchestra
und streicht
Noris Theme
, komponiert von Alan Silvestris.
Lange bleibe ich nicht allein. Aus einem dunklen Wolkenfetzen stößt Thomas zu mir. Auf einem fliegenden Skateboard. Er ist der Erfinder in unserer Bande. Unter seinem Trenchcoat verbirgt er einen hydraulischen Greifarm, Knallfrösche, Taschenlampen und Wasserpistolen. Gib mir fünf, Alter! Wir fliegen dicht nebeneinander her und klatschen uns ab.
Ein weiterer Freund nähert sich. Es ist Klaus. Er ist das Großmaul. Der Draufgänger. Mann, hat der Speed drauf mit seinem rostigen Bonanzarad. Immer in der ersten Reihe, wenn es zur Sache geht. Und da kommt der dicke Martin. Sein Fahrrad schwankt auf und ab. Er hält sich ängstlich am Lenker fest und kreischt wie ein Mädchen. Martin ist ein Feigling, hat das Herz aber am rechten Fleck. Würde sich für uns, seine Bande, in Stücke reißen lassen, wenn er nicht vorher über seine eigenen Beine stolpert. Er winkt uns zum Gruß, wobei ihm seine Eiskugel vom Hörnchen rutscht und in der Dunkelheit unter uns verschwindet. Wir lachen.
Jörg, der große Bruder, der Spielverderber, ist uns wie immer dicht auf den Fersen. Er soll auf uns aufpassen, uns davon abhalten, auf Abenteuerreise zu gehen. Aber wir büxen trotzdem immer wieder aus. Wer ist nur die Gestalt in meinem Korb? Ich erinnere mich nicht. Sie macht es, dass wir fliegen.
Nur aus Gewohnheit treten wir in die Pedale. Im Handstreich zerstören wir einen Todesstern mit unseren Steinschleudern. Miese Konstruktion, dieser Abwärmeschacht.
Ein gläsernes Piratenschiff zieht vorüber. Die Besatzung droht uns mit erhobenen Säbeln. Wir lassen sie links liegen. Für den Moment. Niemand bedroht uns ungestraft. Dinosaurier streifen durch den Wald unter uns. Sie schnappen zu, aber wir fliegen zu hoch. Viel zu hoch. Die Luft wird dünn, die Erde klein. Na und? Thomas hat Atemgeräte für uns alle gebastelt. Aus Strohhalmen, alten Kartons und Luftpumpen. Klaus verscheucht die Falkenmänner im Alleingang. Er brüllt und geht zum Angriff über. Sie nehmen Reißaus. Wir landen auf dem Mond. Es ist kalt hier, aber Martin hat für alle heiße Schokolade in einer Thermoskanne dabei. Wir werfen die Fahrräder in den Mondstaub und rutschen den Abhang in einen Krater hinab. Es muss das Meer der Ruhe sein, denn plötzlich wird es ganz still. Ich trage die verhüllte Gestalt im Arm wie ein Baby. Ich spüre, dass die Stille ihr gefällt. Wie in Zeitlupe erreichen wir den Grund des Kraters. Nahezu schwerelos springen wir umher, und keiner unserer begeisterten Jauchzer ist zu hören. Mit Langlaufskiern aus Mondgestein erkunden wir die der Sonne zugewandten Seite des Mondes. Es ist wohlig warm und wir schwimmen im Staub wie im Baggersee. Dann halte ich es nicht mehr aus. Ich lüfte vorsichtig die Decke, um einen Blick auf die Gestalt zu werfen. Sie ist ganz klein, alt und schrumpelig. Sie ist meine Mutter.
Donnerstag, 11. Juli 1985
Ich erwache in meinem Bett. Der Wecker zeigt 09:08 Uhr. Draußen höre ich das Geräusch eines Besens, der über Asphalt fegt. Bis ins Treppenhaus hallt die Stimme meiner Mutter. Neben der Küche, im Esszimmer, sitzt sie auf der Eckbank und spricht scharf ins Telefon, als ich reinkomme. Von verletzter Aufsichtspflicht, Körperverletzung und ernsthaften Konsequenzen ist die Rede. Wörter, die ich kaum in ihrem Wortschatz vermutet hätte. Sie kämpft für mich wie eine Löwin. Grußlos beendet sie das Gespräch. Ihr Blick wird freundlicher, als sie mich ansieht.
„ Du gehst nicht zur Schule, bis das geklärt ist.“
Ich nicke. Soll mir nur recht sein. Heute wäre wieder Mathe. Wir frühstücken, als wäre Sonntag. Mama erzählt mir, dass sie schon mit Frau Becker gesprochen hat.
„ Wir waren uns einig, dass das so nicht geht. Timm kann sich warm anziehen.“
Ich lächle, lasse die
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