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Mal Aria

Mal Aria

Titel: Mal Aria Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carmen Stephan
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Zunächst dachte sie, es sei der Papagei im Innenhof. Aber es kam aus dem Nebenzimmer. Es waren eine Frau und ein Mann, die es miteinander trieben. Die Frau stöhnte, der Mann sprach leise auf sie ein. Die Stimme der Frau wurde heiser, sie bekam etwas Entferntes, immer wieder ein Klatschen. Bloß um einen Hauch, um einen Millimeter minderte Carl seine Umarmung. Beide hörten sie ungerührt zu oder sehnsüchtig weg. Sie schämte sich. Weil ihr Körper
dazu
nicht mehr in der Lage war. Weil er woanders war. Bis vor zwei Tagen konnten sie keine Nacht einschlafen, bevor sie nicht miteinander geschlafen hatten. In dieser Nacht lag zum ersten Mal, seit sie sich kannten, etwas Unerreichbares zwischen ihnen. Das Bett wackelte. Drüben verlor jemand die Kontrolle; hier auch.

3 .Tag
    Die Stewardess ging durch die Sitzreihen. Streng ließ sie ihren Kopf hin und her wandern, blickte nach unten, wie die Amme in die Babybettchen, prüfte die sicher geschlossenen Gurte.
Klack
. Sie bemerkte nicht, dass einer ihrer Schützlinge fieberte. Die Landung war, wie jede Landung, ein kontrollierter Unfall. Endlich waren wir in Rio.
    Manche Städte liebt man für das, was sie in einem hervorbringen. Rio war so ein Ort für sie. Jetzt dachte sie an das letzte
churrasco
mit Freunden. Ein Hinterhof, ein Garten, ein alter Fernseher, auf dem ein Fußballspiel lief. Eine Avocado fiel vom Baum, knallte auf ihren Kopf. »Sete Anos de Inspiração!«, rief jemand lachend. Hier würde alles gut werden. Sie würde gesund werden. Das glaubte sie wirklich.
    Am Horizont die Berge von Petrópolis in bläulichem Licht, rhythmisch gezackt. Das Poltern des Taxis über die Autobahn. Die Länge der Reise. Das Wuchern der Bretterbuden, die langsam in gemauerte Häuser übergingen, je näher man ins Zentrum vorrückte. Der pflaumenfarbene Himmel, in den die Apartmenthäuser stachen. Sie hing im Arm von Carl, lächelte, tatsächlich. Ihr Annehmen der Diagnose, das Dumpfe daran, reizte mich, es machte mich langsam wütend. Diese Geduld im Ertragen, dieses Fraglose. Ich musste jetzt etwas tun. Musste mich zeigen. Nur nicht zu nah. Was genau konnte ich tun?
    Ihr Apartment in der Visconde de Pirajá in Ipanema. Ana, ihre halbdeutsche Mitbewohnerin, ihre Freundin, hatte ihr Bett frisch bezogen, Tee gekocht, einen Strauß Tulpen mit einer Papageienblume in ihr Zimmer gestellt. Warum kriegen Kranke und Tote von euch zwanghaft Blumen?
    Nun konnte ich nachdenken, ein paar Runden drehen. Eine Stunde würden sie ohne mich auskommen. Die Stadt von oben. Die grünen Berge verströmten Kraft durch bloße Anwesenheit. Die Häuser drückten sich an die Hügel. Das Meer gab die Ruhe. Langsam verstand ich, wie alles zusammenhing.
    Die Geißeln zwingen uns, zu Mördern zu werden.
    Deshalb werden wir von euch gejagt.
    Die Geißeln verhexen uns, machen uns zu ihren Werkzeugen. Während sie sich in meinem Bauch lebensfroh fortpflanzen, unterdrücken sie meinen Drang zu stechen, wenn ich dringend Blut für meinen Nachwuchs suche – um ihren eigenen Nachwuchs nicht zu gefährden. Ich könnte ja erschlagen werden. Ihre Schutzhülle wäre weg. Sind ihre Nachfahren geschlüpft, drängen sie mich, öfter und aggressiver zu stechen, damit sie sich schnell und weit verteilen können. Das sind die Augenblicke, in denen ich gar nicht genug kriege vom Blutsaugen. So verschaffe ich ihnen möglichst lange Zugang zu den Menschen. Bin ich nicht genauso fremdbestimmt wie ihr – von hirnlosen Geißeln?
    Aber wir stehen über ihnen. Wir sind stärker; nicht böser. Wir müssen die kleinen Bestien aus unseren Körpern verscheuchen. Von Zeit zu Zeit muss der Schwarm seine Richtung ändern. Es lag jetzt an mir, das zu tun. Es war vielleicht die einzige Möglichkeit.
    Tiefflug zum Strand. Junge Männer mit nacktem Oberkörper führten fünf, sechs Hunde auf einmal spazieren. Die Leinen verliefen sternförmig in alle Richtungen, wie die Ziele der Airlines in den Bordmagazinen. Kinder, Rumsteher, Witze-Reißer, Marktfrauen, sie alle sendeten untereinander Zeichen aus, machten kleine, für mich unlesbare Gesten. Hier schien keiner ganz von dem anderen getrennt zu sein.
    An jeder Ecke ratterten die Fruchtpressen, Hämmer klopften, ein Gewirr von Stimmen dröhnte hinter meinen Fühlern. Eilig liefen die Menschen die Straße hinunter. Sie dachten, sie gingen nur umher. Dabei lief ihr Leben längst auf etwas Unsichtbares zu. Etwas, das ihrem Handeln völlig gleichgültig gegenüberstand.
    Die einzigen

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