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Mal Aria

Mal Aria

Titel: Mal Aria Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carmen Stephan
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war die Rede. »Und die Mücken tun einem das Tier ins Maul?«, fragte ihn ein Junge. »Nein, die Tierchen wachsen im Bauch der Mücke, dann reisen sie von Mensch zu Mensch, dringen durch die Haut in deren Körper ein und treiben da ihr Unheil«, antwortete er. Am Ende war es doch Severino, der verrückt geworden war.
    Bevor man ihn aus dem Dorf vertreiben konnte, ging er eines schönen Tages freiwillig. Er irrte durch den Wald, schlug sich durch das Dickicht, durchwatete langsame Flüsse, schlug Zäune nieder, bis ihn eine Baumreihe tiefer ins Gehölz führte. Die Bäume waren groß und reglos, sie waren dicht bewachsen, die Blätter ihm entgegengefaltet. Sie zeigten sich voll und ganz, als wollten sie ihn ansprechen. Sie hatten weder innere Organe noch Gedanken, sie waren pure Manifestation, sie verbargen nichts, und dennoch war es ihm, als hätten sie ein höheres Wissen, als kennten sie das Geheimnis der Welt. Kaum war er rechts und links an zwei Riesen vorbei, spürte er ihre Blicke im Nacken. Der Weg führte ihn auf einen anderen Baum zu, der noch größer, noch schöner war als die anderen. Er kannte den Baum. Es war ein
Carapanauba
, auch
Árvore dos mosquitos
, Baum der Mücken, genannt. Er schwirrte und summte nur so. In seinem Stamm befanden sich kleine Ausbuchtungen, wie hölzerne Miniatur-Schwimmbecken, in denen sich das Regenwasser sammelte und die Anopheles ihre Eier ablegten. Die langbeinige Trompeterin lebte auf dem und durch den Baum. Seit Jahrhunderten kannte er sie, ihr Wesen, der Baum wusste von dem verdammten Kreis, in dem sie eingeschlossen war. Er musste es wissen. Und als Severino über diese Dinge nachdachte und dabei das dichte Wurzelgeflecht, das über den Waldboden lief, lange betrachtete, hatte er eine Idee.
    Er schabte etwas Rinde von der Wurzel ab, lief zurück ins Dorf, kochte sie ab und brachte den bitteren Sud seinem Nachbarn, dessen jüngstes Kind an Malaria erkrankt war. Weil die Verzweiflung groß genug war, ließ man ihn gewähren. Das Kind trank den Saft in ruhigen Schlucken. Nach einer Nacht war das Fieber nicht mehr so hoch, die Milz nicht mehr aufgebläht. Wie durch ein Wunder ging es dem Kind langsam besser.
    Severino blieb ein Sonderling; aber ein geschätzter.
    Und der
Carapanauba
wurde als der Baum in Amazonien bekannt, der über das Zusammenleben mit dem Nichtsnutz Anopheles gelernt hatte, ein Mittel gegen Malaria zu bilden, das dem Kranken das Leiden zumindest erleichtert.

4 .Tag
    Visconde de Pirajá  210 . Der
Porteiro
saß an seinem Holztischchen und las ein Buch mit dem Titel:
A arte de permanecer casado
(Die Kunst, verheiratet zu bleiben).
    Zweiter Stock. Die Wände ihres Zimmers waren sandfarben. Hinter dem Fenster ein karger Innenhof. Keine Vorhänge, sondern Lamellen. Wenn der heiße Wind hereinwehte, wirbelten sie ineinander, klackten leise. Eine Kommode, ein Tisch, ein Regal.
    Eselsohren in ihren Büchern. Der Drang, die Dinge verstehen zu wollen. Eine Papageienblume, die ihr versicherte, dass es warm war, wenn es in ihr kalt wurde. Sie lag in ihrem Zimmer und sehnte sich nach dem Zimmer, das es gewesen war.
    Über allem thronte der weiße Ventilator, auf dem ich saß und Carmen anschaute. Wie still sie dalag. Eingeschlossen in ihren Gedanken, ihren Empfindungen, die einen festen Kreis zogen.
    Sie dachte an zu Hause. Vor allem dachte sie an zu Hause. Sie hatte eine absurde Sehnsucht, »nach Hause« zu kommen, zu ihrer Familie, in ihren kleinen bayerischen Heimatort, den sie schon längst verlassen hatte. Es war nicht wegen ihrer Eltern, die konnten ja hierherkommen, falls sie nicht gesund wurde. Es war wegen ihrer Großeltern. Maria und Rudl. Die konnten nicht mehr kommen. Der Opa konnte nicht mehr kommen, weil er tot war. Die Oma konnte nicht mehr kommen, weil sie sterben wollte. Dem Opa nachfolgen. Ihre Hand hatte sie im letzten Jahr auf seinen Sarg gelegt und ihm versprochen: »Ich komm bald nach, Rudl.« Das versuchte sie nun seit einem Jahr, das Sterbenwollen.
    Die Oma. Wie sie durch die Brennnesseln mit nackten Füßen gelaufen ist. Stolz wie eine indische Göttin. Wie sie den Kaffee über dem brennenden Holz aufgesetzt hat. Wie sie von ihrer Flucht erzählte. Dem Vertriebensein. Der Ohrensessel, der Ofen, ihre Wolle. Wie der Opa Holz gehackt hat, eine Hand nur drei Finger. Wie er über Politik diskutierte, leicht nach vorne gebeugt. Nachfragend, herausfordernd. Wie er seine Stadtwurst geschnitten hat. Wie er das Pferd am Kirschbaum festband. Wie die

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