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Mal Aria

Mal Aria

Titel: Mal Aria Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carmen Stephan
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flatterte etwas. Sie spürte den Wind des Flügelschlags noch im Gesicht. Am Fenster saß ein Vogel. Ein graufiedriger, dessen Art sie nicht kannte.
    Heimweh nach einem Spatz. Heimkehr ist keine Lösung.
    Die dunklen, klaren Augen des Vogels schauten sie an. Das Fenster zu seiner Welt ist offen, und es ist zu. Mit dem gleichen Blick hatte die Katze sie angesehen.
    Das Tor stand offen, das Kätzchen, es trug den Namen aus einem Andersen-Märchen und war kaum einen Monat alt, lief aus dem Hof ihrer Eltern. Sie ging ihm hinterher. Nur lief es immer weiter, verspielt und ängstlich, von ihr davon. Neugierig, was die Welt draußen zu bieten hatte. Warte doch. Bleib hier, rief sie. Das Kätzchen tapste davon. Sie blieb stehen, da blieb es auch stehen. Es befand sich schon auf dem Asphalt, dem Fahrbahnrand, wo es den Luftzug der vorbeizischenden Autos spüren musste. Das Kätzchen drehte den Kopf, sah ihr in die Augen. Was hatte es ihr mitzuteilen? Sie lockte es. Komm hierher, komm, her zu mir, bleib stehen, bitte. Komm auf meinen Arm. Bitte. Sie versuchte einen winzigen Schritt nach vorne, und das Kätzchen in seinem warmen Fell, mit klopfendem Herzen, sprang fröhlich auf die Straße. Sie ruderte wild mit den Armen, dem anrauschenden Wagen entgegen. Erst als er die Katze erfasste, ließ sie die Arme fallen. Ein dumpfes
Klong.
Mehr war es nicht. Der Wagen fuhr weiter, langsamer, aber er fuhr weiter. Wattierte Luft. Gehör und Sehkraft trennten sich vom Empfinden. Mit einem Mal war es, als wäre in einem Traum noch mal ein Traum aufgegangen. Das Gegenteil von einem Traum, aber ein Traum.
    Zartes Katzengesicht, zerquetscht. Bläuliche, hervorquellende Zunge. Die Augen aus den Höhlen tretend. Der leblose Körper auf dem Asphalt sah dynamisch aus, die Pfoten weit auseinandergespreizt. Nirgends ein Tropfen Blut. Das Gesicht des Kätzchens grinste entweder oder es war voller Entsetzen, so genau ließ sich das nicht sagen. Sie schob das entstellte Geschöpf mit ihrem Fuß vorsichtig an den Fahrbahnrand. Hinter die weiße Linie. Genau dort hin, wo die lebende Katze ihr vor einer Minute so offen in die Augen gesehen hatte.
    Es waren die Augen, in die sie jetzt sah. Die kein Verständnis kannten, aber nicht verständnislos waren. Der Vogel nahm den Blick der Katze wieder auf; und eine Wärme breitete sich in ihr aus, die sie voller Glück einnicken ließ, bis die Angst sie wieder weckte. Was, wenn sie all das bald nicht mehr sah, wenn sie all das niemandem mehr sagen konnte? Was, wenn nicht, was, wenn nicht, hallte es in allen ihr unbekannten Kammern.
    Quäl dich nicht, flüsterte ich ihr zu.
    Quäl dich nicht.
    Sie hatte doch immer Glück gehabt. Immer hatte sie Glück gehabt. Sie war doch gefeit. Hinterher werden sie wissen, woran sie gestorben ist. Man wird sie obduzieren. Warum konnte man Lebende nicht obduzieren?
    Was, wenn sie Carl nicht mehr sieht? Nie mehr. Was, wenn sie die Hand der Oma nicht mehr halten kann? Nie mehr. Was, wenn der Herbst ohne sie zu Ende geht? Für alle Zeit.
    Quäl dich nicht, quäl dich nicht.
    Ja, was dann.
    Was dann.
     
    Dann geschah etwas Seltsames.
    Kalt und klar wurde alles. Es war, als würde sie ganz klein in sich zusammensinken, nicht mehr sein.
    Ihre Stimme hörte sie. »Es ist okay«, sagte die Stimme, oder sagte es in ihr.
Es ist okay
. Sie würde nicht mehr nach Hause kommen, sie würde all diese Menschen nicht mehr sehen; und es war in Ordnung. Es durfte sein.
    Da ließ sie los.
    Mit einem Mal rissen alle Taue, und sie fiel. Sie fiel. Und sie fiel tiefer. Und die unsagbare Tatsache, die folgte, war, dass sie nicht ins Bodenlose stürzte. Als würde sie unverhofft in ein weiches Blätterdach fallen.
    Man stürzt nicht ins Nichts. Ich kann das nicht anders sagen, ich kann es überhaupt nicht beweisen und beschreiben, aber ich kann sagen, dass es so ist. Und dass es eine sagenhafte, eine unendliche und zugleich demütige Erfahrung ist, die ins Leben hineinscheint und einem bescheidet: Mir kann nichts passieren. Ich werde gehalten. Das, was sie hielt, war nichts Äußeres, es war etwas Inneres, etwas, zu dem sie keinen Zugang hatte, das sie nicht kannte, von dem sie jetzt jedoch wusste, dass es bis zum Ende bei ihr bleiben würde, dass es mit ihr zusammen, geschlossen in einer Reihe, Hand in Hand, wie die Kinder zum Schwarzen Mann, hinübergehen würde.
    Als Kind hatte sie oft auf einer Wiese gelegen, in den Himmel geschaut und sich gefragt, was dahinter lag. War unter der blauen Ebene eine

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