Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mal Aria

Mal Aria

Titel: Mal Aria Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carmen Stephan
Vom Netzwerk:
Dinge außerhalb, ihr wandelt euch nicht mehr innerlich, ihr entwickelt euer Wesen nicht mehr. Euer Gehirn hat sich seit hunderttausend Jahren nicht verändert.
    Der Wind bewegt die Äste, die Blätter, den ganzen Baum. Es regnet auf die Pflanzen, und sie wachsen. Dieselbe Sonne, deren Licht auf ferne Planeten fällt, scheint auf euch und auf mich und auf die Geißeln. Sie sind der kleinste Ausdruck eines und desselben Ganzen. Was ist eure Rolle in diesem Ganzen, wie seid ihr noch darin verstrickt?
    Kinder bringen Steine. Sie schaufeln Sand, ein und wieder aus. Sie kippen Wasser in einen Eimer und wieder aus. Sie tragen stundenlang Stöcke in ihrer Hand. Sie sind direkte Verlängerung in die Natur. Sie haben eine Leitbahn in die Natur. Ich wollte euch diese Leitbahn wieder zeigen, die ihr mit euren Milchzähnen, mit eurem ersten Gedächtnis verliert. Aber es ist mir nicht gelungen. Ihr sprecht meine Sprache nicht. Ihr seht nicht, was ich sehe. Es gibt viel mehr, als ihr seht.
    Verjagt uns. Schlagt uns tot. Macht weiter.
Aber nicht in unserem Namen. Nicht für unseren Gott. Und nicht für uns.
Ihr sprecht nicht für mich. Ihr tut es nicht für mich. Was ihr an ihr versäumt, versäumt ihr nicht an mir.
    Ich konnte euch nicht ändern. Nur ihr konnte ich mich ganz zuwenden. Wenn ich für euch nur noch Hass empfand, empfand ich für sie nur noch Liebe. Sie war nicht bloß ein Mensch, sie war meine Blutsschwester. Wir waren verbunden. Wir waren wie zwei Planeten, die um dieselbe Sonne kreisten. Kein Sprechen, kein Einander-in-die-Augen-Sehen war möglich, und doch waren wir da. Wir waren beide da.
    Mit letzter Kraft für einen letzten Flug zitterte ich hinauf zu ihrem Nasenrücken. Gelbe Tropen. Beschämt zeigte ich mich ihr. Es war ganz gleich, ob sie mich töten würde oder nicht. Ihre Augenbraue, wie ein Tier, das halb eingerollt schlief. Eine gestrichelte Narbe zwischen den Haaren. Ihre Wimpern, die sich zart und schön nach oben wandten. Wie viele Stunden habe ich dieses Gesicht schon angesehen. Wie gut es lügen konnte. Ein Mensch, der von innen aufgefressen wird und äußerlich beinahe unversehrt ist. Müde, leere Augen. Ich sah in ihre Netzhaut, hauchzarte Glieder eines Insekts, die sich darin spiegelten, langsam nach innen davonschwebten.
    Pupillen, die wie Kugeln nichts erwidern, schwarz und undurchdringlich, ihr Schicksal ertrugen. Es war keine Gleichgültigkeit, es war Annahme, die ich sah. Meine Annahme. Meine Unzulänglichkeit. Wohin führte dieser schwarze Tunnel, was verbarg sich dahinter? Ich erkannte in ihm etwas sehr Fernes und etwas sehr Nahes. Ich hörte, von weit her, ein metallisches Schlagen. Die Pupille zuckte, wie ein Zeichen. Bat sie mich um Hilfe? Dann war es still. Sah sie mich?
    Äderchen schimmerten durch die dunkle Kugel, sie fing an, sich zu drehen, schnell wie eine Spirale. Dieses schwarze Nichts war wie ein Sog, der mich nach innen zog. Ich schmeckte Blut im Mund. Und so fiel ich hinein.

13 .Tag
    Am Morgen fiel heißer Regen. Sie liebte das Geräusch, weil es so alt war. In Vorzeiten war Regen auf die Erde gefallen, den nur Kreaturen mit ledrigen Rückenkämmen hörten. Es war der gleiche Regen, den sie jetzt hörte. Manchmal tauchte etwas in ihr auf, in dem alles enthalten war. Ein Wegdrehen, ein Umarmen, jemand auf einem Feldweg, eine Nachricht, zweimal konnte sie es fassen, umkreisen, bis das Wissen ihr entglitt, wieder auf den Grund des Bewusstseins fiel, zwei schweren Steinen gleich. Alles war schon da. Die Antworten gab es schon. Nur den Zugang nicht.
    Sie fror jetzt.
    Regnet es zu Hause?
    Regnet es jetzt zu Hause?
    Im Regen ist alles weniger wahr und empfänglich wie ein Traum.
    Wie sie bei der Oma, in der Stube, im Ledersessel kauerte, wie die Oma neben ihr, im Kittel, auf der Bank saß und nähte. Ihre Hände so groß. Ihre Hände wuchsen. Wie das Feuer im Ofen brannte, die frischen Rohrnudeln und der heiße Tee auf dem Tisch dampften.
    Wie die Oma erzählte und erzählte. Wie sie nachts durch die eisige Moldau geschwommen war. Auf der anderen Seite, im Wald, das Silber und die Herzensdinge vergrub. Wie sie durch den Wald zurückrannte, aufgeschreckt durch ein Geräusch. Wie es, mitten am Tag, zu Hause am Fensterchen klopfte und hinter den bestickten Vorhängen das Gesicht eines Tschechen auftauchte. Wie die Oma sich die Haare zerzauste und auf ihr Gesicht Ruß aus dem Ofen schmierte. Wenn jemand aus dem Nichts an ihr Fenster klopfte. Ein Gesicht erschien. Zwei oder drei

Weitere Kostenlose Bücher