Mal Aria
Gesichter erschienen. Niemand, der sie heute besucht, sollte ans Fenster der Oma klopfen. Niemand sollte das je wieder tun. Sie muss ihnen das sagen. Die Oma erzählte von der kalten schwarzen Moldau so anschaulich, dass es sie, das Enkelkind, schüttelte. Vier, fünf Frauen, wie sie sich im Dunkeln durch das Wasser kämpfen, ihr warmer Atem in der kalten Luft. Wie die Oma dann aufstand, ein Scheit Holz im Feuer nachlegte. Immer noch friert sie bei dem Wort Moldau. Bei dem Wort. Und ihr wird warm bei dem Wort Oma. Bei dem Wort.
Es gab nichts mehr zu tun. Es gab zu sehen, wie der vom Fenster gerahmte Baum sich senkte. Wie der ausgeschaltete Fernseher, das Wägelchen, die Brechschale, die Blumenvase, die Dinge bei ihr blieben. Unbegründete Traurigkeit, die plötzlich einen Sinn hatte. Die Erfahrung, dass nichts wirklich mitteilbar ist. Das Empfinden des Bindestrichs. Dass es nicht darum ging, sich in dem einen oder anderen Zustand einzurichten, sondern um die Beziehung zwischen beiden. Dass sie voller Liebe hier liegen konnte und niemand es bemerken musste.
Alles war normal. Das Sohlenquietschen, der Duft von Gemüsesuppe, das Klappern des Geschirrs. Das Entmündigen.
Wir brauchen Ihr Blut
. Das Fragen.
Ist Ihnen kalt?
Das Bitten.
Versuchen Sie zu essen. Eine Kleinigkeit.
Das Kämmen und das Zähneputzen. Bis zum Ende blieb das alles normal. Diese Dinge änderten sich nicht. Ihre Alltäglichkeit stand vor der Unverfrorenheit des nahenden Todes.
Das bärtige Gesicht eines Pflegers über ihr. Er sprach in langem weichem Ton mit gestürzten Lippen, »nuvem«, »nuuuvveem«, als wollte er die Worte aus seinem Mund direkt in ihren hineinlegen. Er lächelte, weil er dachte, sie lächle. Sein gebräuntes Gesicht verschob sich in ein deformiertes, mit langgezogenen Zähnen, langgezogenen Augen. Häuser fielen vom Land ins Wasser. Häuser tosten als Gebirgsbach durch eine Schlucht. Der Geschmack von Metall in ihrem Mund. Deutsche Wörter fielen ihr ein, wie die
hereinbrechende
Dunkelheit. Die Nacht kommt durch die Tür als Einbrecher.
Da war dieser Augenblick auf der Reise, als sie im Sand der Flussinsel saßen. Carl steht auf, um ein Eiersandwich bei Alexandre zu holen. Noch bevor er zurückkommt, ist die Finsternis da. Die Schatten von Tieren wimmeln neben ihrer Hand, huschen davon. Von der Dunkelheit zum Leben erweckt. Waren es diese Tiere, waren diese Tiere es, die …
Ein Arzt kam, ging, als sei alles auf gutem Wege. Als existierten nur Gesundwerden und Medizin und der Weg dazwischen. Oder wusste er längst, wie es um sie stand. Wollte er sie nur in Sicherheit wiegen? Spielten alle Theater für sie?
Wie geht es Ihnen heute? Wir finden heraus, was Sie haben. Es wird Ihnen bald bessergehen.
Seine Worte fielen durch sie hindurch. Moleküle in der Luft schluckten sie. Es ist genug für alle da.
Ihr Blick hing an dem Baum. An den Zweigen zitterten die Blätter. Licht fiel durch die Äste, wärmte sie. Sie schloss die Augen. Was, wenn die Bäume alles wissen und wir nichts? Das Leuchten ging durch Sehnen, Adern, Fühler und Kanälchen hindurch, hinunter bis zu den Geißeln, die ein Teil von uns waren. Das Ende der Kette, das Perfekte in der Welt auf eine Zelle reduziert.
Übel wurde ihr, und sie erbrach sich. Ganz matt war sie, alles schwirrte, und selbst ihre Schwäche leuchtete. Sie hob die Hand. Drückte den Klingelknopf. Der Ton verschwand, ohne dass man ihn hörte. Wo kam er an? Wo endete diese Klingel, wer hörte sie, wer kam, und wer, der kam, wusste etwas? Wer, der kam, sah etwas? Sie drückte die Klingel wieder, und der Ton verschwand aufs Neue, lautlos, flog durch das Krankenhaus, durch die Leitungen flog er in den Wald. Er hallte darin wider wie das Echo des
Sumaúma
-Baums. Mit seinen zeltförmigen Wurzeln, die im Wald Verirrte mit einem Ruder schlagen, mit einem Stock, und durch die Wurzeln schallt ein lauter dunkler Ton durch den Wald, bis ein anderer ihn hört, der seinerseits einen
Sumaúma
sucht, auf dessen Wurzeln schlägt, um dem anderen zu antworten. Um zu sagen, ich bin da. Ich höre dich. Folge meinem Schlagen. Nun schrillte der Klingelton durch den Wald und hallte, und sie hörte weder ihren eigenen noch den, der antwortete.
Sie tastete nach ihrem Handy, drückte Anas Namen. Hörte ihre warme Stimme. »Ana, da ist keiner, ich habe geklingelt, da kommt niemand.« »Ich rufe sofort im Krankenhaus an, dass sie jemanden hochschicken, und ich komme zu dir, ich komme gleich zu dir.«
Eine Schwester.
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