Mal Aria
Die liebe, die sie auf die Wange geküsst hatte. Sie gab ihr eine Spritze, irgendeine kalte Flüssigkeit in die blaue, dicke Ader, in die ich, ein Stück weiter oben, eingedrungen war, um das warme Blut aus ihr zu holen.
Aber kleine, unsichtbare Tierchen hatten die Verteidigungskräfte ihres Körpers aufgebraucht. Es war ein kraftvolles Niederlegen. Eine Stille, die tief ist.
Nicht sie gab auf. Ihr Körper gab auf. Das Ich hatte nichts zu melden. Der Schmerz im Kopf, hellgelb, seit fast zwei Wochen, blieb allein zurück. In der Ruhe zwischen den Knochen trat er noch stechender und schneidender hervor. Allein dieser Kopfschmerz reichte, um sich hin und wieder den Tod zu wünschen. Als Erlösung. Das ist der Sinn von Schmerzen. Sie lösen einen von der Erde. Man will gehen. Ja, man will. Für eine Zeit. Nicht: für alle Zeit. Diese grauenvolle Ewigkeit, die hinter dem Tod wartete, war das Schreckliche. Für alle Zeit, flüsterte der metallene Mund. Ihr und ich.
Die Ruhe in ihrem Körper war fremd, als hätte sie nur noch eine Verbindung in die Höhe, als stünde der Geist ganz allein auf einem hohen Plateau. In ihr formte sich langsam der Schrei. Ein Schrei ohne Sprache, der nichts sagen wollte. Sie spürte Carls heiße Wange an ihrer. Sie sah die Hand. Die lebende Hand. Die durchblutete Hand. Die warme Hand. Die raue Hand. Mit dem dünnen, blechernen Ring daran. Die Hand der Oma. Sie drückte diese Hand, bis es wehtat. Mit aller Macht will sie, dass diese Dinge Wirklichkeit werden. Das Zimmer überschwemmt mit Sehnsucht nach Carl, bis sie keine Luft bekommt. Nach Hause. Barfuß durch den Schnee. Feuer knistert im Kamin, und die Eisblumen frieren am Fenster. Laternen, da sind doch Laternen auf dem Dachboden, die ich als Kind gebastelt habe. Was ist da drauf? Sie will die Laternen sehen. Den Vater, die Mutter. Nicht ohne Abschied. Bloß das nicht. Konnte das sein? War es möglich? Alles hat seine Zeit. Hatte sie ihre Zeit?
Der Tod abstrakt funktioniert. Der Tod konkret funktioniert nicht.
Der fragliche Punkt stand nicht mehr unglaubhaft, losgelöst vom Lauf der Jahreszeiten in der Ferne. Nein. Hier in Rio. Heute schon oder morgen. Sie kommt nicht davon. Ein gewöhnlicher, sonniger Tag. Ein Tag im September. Hier beginnt der Frühling. Zu Hause beginnt der Herbst. Tief golden die Sonne. Blätter, die auf der Straße tanzen. Gelbe Blätter. Rote Blätter. Voller Blut. Die Blätter welken, knistern, trocknen, runden sich nach oben, formen Trichter. Darin sammelt sich das Blut.
Trinkt alle daraus; das ist mein Blut, das Blut des Bundes.
Wie oft wird er erneuert. Euer Blut mir geopfert. Bis ihr versteht.
Was tue ich hier.
Was seid ihr.
Ich trinke nicht mehr aus euch.
Eure Haut stößt mich ab.
Eure Augen sind weiße, leere Kugeln. Zum Hineinstechen gemacht.
War sie nicht eine von euch. Sind hier nicht alle gleich.
Euren Leib haltet ihr fest, wie man den Atem anhält. Den Blick senkt ihr, sobald euch die Augen eines Fremden begegnen. Die Schultern spannt ihr an, selbst wenn ihr das Liebste umarmt. Immer und immer haltet ihr euch fest.
Bis zum Tod haltet ihr euch fest. Und nicht mal nach dem Tod lasst ihr los.
An einem milden Spätsommertag fanden vier Archäologen in Italien ein Malariagrab mit fünfzig Kindern darin. Sie öffneten es; und als sie sahen, was sie sahen, schluckten sie. Auf den skelettierten Ärmchen und Beinchen ruhten schwere Steine. Die Ausgräber sahen die kleinen Knochen unter dem Geröll, senkten ihre Augen, und es brach ihnen das Herz. Die Eltern hatten die zerbrechlichen Glieder ihrer Kinder mit Steinen beschwert, damit sie wenigstens unter der Erde Ruhe haben vor den Dämonen, die ihre Gebeine schüttelten. Eine Frau war mit ihrem Kind beerdigt. Wie sie den Arm schützend auf das Kind legte, als wollte sie es im Tod noch festhalten, damit es sich nicht rührte. Im Tod sollte es sich nicht rühren. Und dort, wo zuvor Fleisch war, klaffte nun eine Lücke zwischen den Knochen von Mutter und Tochter. Die Schädel von einer Zickzacklinie durchzogen. Wie ein Diagramm. Die Ausgräber hoben die Körper der Kinder heraus, legten sie in Tücher, und das, was ihnen am wichtigsten erschien, war, die Steine auf den Armen und Beinen der Kinder zu lassen. Die Steine durften nicht verrutschen. Das war ihnen das Wichtigste, dass die Steine da blieben, wo sie waren.
Kultur definiert euch, aber sie trennt euch von der Natur. Euer Leib ist eure Rüstung. Festhalten, festhalten. Schützen. Ihre Rüstung
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