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Mal Aria

Mal Aria

Titel: Mal Aria Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carmen Stephan
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knipst ihn an den Schultern fest. Langsame, tropische Bewegung. Es folgt ein Nachthemd mit einem Kätzchen darauf. Der Junge schaut herüber, lächelt, ertappt. Wenn ich könnte, würde ich das Blutröhrchen, das die Schwester auf dem Wägelchen liegen ließ, mit meinen Zähnen aufnehmen. Ich stelle mir vor, wie ich es an einen Pfeil binde. Wie ich einen Bogen spanne. Wie der Pfeil mit dem Blutröhrchen hinüberfliegt zu dem Jungen, der ihn aus dem Blumentrog zieht. Wie er das Blut in seinem Zimmer in viele einzelne Tropfen teilt, von denen er jeden zwischen zwei Glasplättchen legt. Er schickt die Tropfen in kleinen Päckchen in die ganze Welt, zu den besten Ärzten. Ein Arzt in Lettland untersucht ihn, genauso wie ein Arzt in China, in Rom, in Sierra Leone, in Manaus, in Nairobi. Und einer von ihnen erkennt darin die AATU und schickt dem Jungen ein Gegenmittel. Der Junge bindet das Medikament an den Pfeil. Schießt. Er fällt in unser Krankenzimmer. Ich lege ihr das Gegenmittel in den Mund, und sie wird gesund. Wenn ich könnte, würde ich den Bogen spannen. Ich würde den Pfeil mit dem Blutröhrchen abschießen, hinüber zu dem Jungen, auf den Balkon. Wenn ich nur könnte.
    Ihr Blick hing an den Wolken, die vorüberzogen, vor dem Himmel, der grau war und nah. Den Wolken, die das Licht in immer schönere Gebilde trieb.
    Die Wolken schraubten sich nach oben, und sie musste an das Ave Maria denken, wie es sich nach oben schraubt, und dass in diesem Höherwerden der Töne auch ein Aufrichten liegt, ein Haltungannehmen, ein Hinwenden zu Gott, und innerlich sang sie es jetzt, um sich aufzurichten.
    Wir werden anämischer. Weshalb unsere Gesten, Blicke anämischer werden. Aber wir sind noch da. Was für ein Irrtum der Glaube, nichts zu spüren, nichts mitzubekommen. Wenn doch alles auf den wesentlichen Punkt verdichtet ist. Außerhalb dieses Punktes ist der Irrtum.
    Unfähig, zu fliegen, mit dem pochenden Schmerz an der Stelle, wo zuvor ein Bein war, aber bei vollen Sinnen, hatte ich mich auf das Wägelchen geschleppt. Ein volles Wasserglas stand darauf. In Schwarzafrika schreiben die Muslime einen Heilvers aus dem Koran mit Staub auf eine Holztafel. Über die Schrift schüttet der eine Mensch das Wasser, der andere fängt es in einem Krug auf. Sie kippen es dem malariazitternden Kind über den Kopf. In stiller Hoffnung, dass die Schrift sich auf und im Körper entfalte, dass die Worte Teil von Blut- und Hautzellen werden, dass sie im Herz und in der Leber wirken und den Leib zur Ruhe bringen.
    Meine verbliebenen Beinchen zog ich über die glatte Oberfläche des Wägelchens, den Staub, der haften blieb, schleppte ich bis zum Krater des Wasserglases und legte die Staubkörnchen auf dem Wasser ab, wie wir unsere Eier darauf ablegen. Eine Stunde später trank sie den Vers. Der Psalm lag auf ihrer Zunge, er rutschte die Speiseröhre hinab, er lag in ihrem Magen. Der Psalm schwamm in ihrem Blut, er lachte den Geißeln ins Gesicht.
    Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir.
    Alles tue ich, nur zusehen werde ich nicht. Ich sehe nicht zu. Das Letzte, das ich für sie tun konnte. Nicht zusehen. Mein tödlicher Stich, meine Versuche, alles rückgängig zu machen, mein stumpfes Scheitern.
    Ihr fragt nach einem Warum. Ich kenne kein Warum. Es gibt kein Warum. Man bindet ein Moskitonetz um sein Bett, und eine Mücke schlüpft hinein. Man bringt sie in ein Krankenhaus, legt alles dar, untersucht sie, versucht alles – und doch verriet das nichts über den Ausgang dieser Geschichte. Es gibt keine Sicherheit.
    Es gibt aber auch keine Logik, kein Rädchen-Ineinandergreifen. War das nur Schicksal oder war es eure Unfähigkeit, zu sehen, war es euer Stillstand?
    Ich war eine andere geworden. Das erste Mal, dass eine Mücke mitempfand. Mit einem Menschen. Das erste Mal, dass ich diesen Zyklus, an den ich gekettet bin, in Frage stellte. Was stellt ihr in Frage, was macht ihr nicht wie alle anderen, wo wandelt ihr euch?
    Als die Geißeln verstanden hatten, dass sie im Wasser nicht weiterkamen, entwickelten sie ihr ganzes Wesen weiter, dass sie in einer Mücke leben konnten; in einem Menschen. In ihm vervollkommnen sie ihren Organismus, noch heute. Wisst ihr, dass sie uns rufen? Aus euch heraus. Euren Geruch verändern sie, um uns anzulocken, sie weiterzutragen. Ihr aber legt Netze, baut Werkzeuge, Fortsätze eures Körpers, erweitert euch in Apparaten, Maschinen. Ihr wandelt nur noch die

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