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Mal Aria

Mal Aria

Titel: Mal Aria Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carmen Stephan
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Schlummer, aber ich gehe nicht. Selbst, wenn ich könnte. Ich gehe nicht. Ich bleibe, bis wir den Tod erreichen.
    Jedes Jahr am ersten Novembertag stehen sie an den Gräbern in ihrem Heimatort. Alle sind heilig an Allerheiligen. Dann gehören die Toten für alle sichtbar zur Familie. Rosi, Michael und Franziska stehen bei Anton, der von einer Brücke gesprungen ist. In ihrer Sichtlinie, ein paar Meter entfernt, steht Familie Schubert bei Johannes, der sich erhängt hat. Ein Kind spielt mit den Steinen auf dem Weg und wirft sie lachend in das Netz seines Kinderwagens. Zu der Erde in einem Grab sagt es »Kaka«. Leicht links steht Familie Meier bei Christine, die vor wenigen Wochen an Leukämie gestorben ist. Und wenn man sich umdreht, sind da David und seine Mutter Fini, die bei Toni stehen, der vor kurzem tot im Flur lag. Sie schauen auf das Grab, als mochten sie hinein. Die Blasmusik spielt Trauermärsche, und das Gesicht von Tante Edeltraud ist genauso roh, so schutzlos wie 1984 , als der Tommy mit vierzehn erfroren ist. Der Pfarrer liest die Namen der im letzten Jahr Verstorbenen vor. Sie reichen zurück bis Ende September. Nur im Oktober ist niemand gestorben. Im nächsten Jahr wird der Pfarrer wieder die Namen verlesen, man kennt sie noch nicht, aber man kann sicher sein, dass er Namen dabeihaben wird. Es ist ganz still, und die Sonne scheint, und der Friedhof ist so mit Schmerz und Leben angefüllt, wie an keinem anderen Tag im Jahr. Mit unsichtbaren, aber doch vorhandenen Fäden sind alle verbunden durch das Nichtbegreifbare, das Unausweichliche; das Mögliche. Als die Leute aus dem Friedhof strömen, löst sich die Spannung, aber die Fäden hängen noch an ihnen dran.
    Was tut man mit all diesen Fäden, die nun im Krankenzimmer Nr.  284 hingen. Sie hingen an der Schwester, am Oblomow, am Jungen gegenüber, an dem Baum, an Ana, an Carl, selbst an den Ärzten hingen sie, alle Fäden liefen zu ihr, knüpften ein unsichtbares Netz, das es vielleicht schon immer gab, aber das sie jetzt erst sah. Hatte sie immer für die anderen getan, wozu sie in der Lage war? Hatte sie sich nicht zurückgehalten, sich nur denen ganz mitgeteilt, von denen sie glaubte, sie seien das Begreifen wert? Hatte sie nicht irrtümlich das bewahrt, was zu verschwenden war? Jeder Blick, der nun auf sie fiel, ging durch ihr Fleisch und traf ihr Herz.
    Lieder hörte sie aus dem Innern.
Vai minha tristeza e diz a ela que sem ela não pode ser
, sang es leise in ihr. Und der Gedanke, dass man seine Traurigkeit einfach wegschicken konnte, der eigenen Traurigkeit einen Auftrag erteilte, ihr sagte, was sie zu tun hatte, erschien ihr neu und revolutionär. Wieso hatte sie das nicht bedacht, warum hatte sie es nicht bedacht. Wieder und wieder versank sie in Tagträume, die Fieberträume waren. Schwächeträume.
Sans défense.
Sie ging einen Pfad voller Herbstblätter entlang, der sie zu einem Teich führte. Fast still, kleine Kreise, kein Fisch sprang. Brennnesseln am Ufer. Übertaute Landschaft. Bäume, hängende Äste, mit Moos bewachsen. Sie ging über eine kleine Brücke, hörte das Plätschern, das Rascheln der Blätter unter ihren Füßen. Da sah sie einen Stapel aufgeschichtetes Holz. Helles, dunkles, Latten, Zäune, Dielen und Baumstämme. Nur weil es zur Mitte hin aufgeschichtet war, dachte sie daran, es anzuzünden, sie ging fest davon aus, dass jemand es anzünden würde. Wie sehr man bestimmt ist, nicht von den Dingen, sondern von dem, was sie darstellen. Vielleicht liegt dieses Holz nur in zufälliger Anordnung da. Vielleicht hatte sie immer nur die Hälfte gesehen. Es gab in ihr noch Kammern, Kellertüren, unterirdische Gänge, die sie nie geöffnet hatte, die jetzt leer standen, als hätte sie nur die oberste Etage eingeräumt. Als sei sie bestimmt gewesen von dem, was die Dinge sein sollten, nicht von dem, was sie sind. Wie die Ärzte in diesem Krankenhaus.
    Auf der untersten Klaviatur hatte sie gespielt. Dabei die Tiefe des Lebens nie erreicht. Sie schlug sich durch das Dickicht der bitteren Erkenntnisse; und es war doch nur Festhalten. Immer noch war es Festhalten. Klammern am Leben. Nicht Leben. Was sie für Leben gehalten hatte, war ein Wehren gegen den Tod. Das, was sich lebendig anfühlte, war das Strampeln dagegen. Aber es war nicht das ganze Leben. Es war nur die Hälfte. Wohin führen all diese Gedanken. Ihre Finger krallten sich in die Bettdecke. Ihr Blick sank in das Beige der Wände. Aussichtsloses Beige.
    Im Augenwinkel

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