Malfuria. Das Geheimnis der singenden Stadt
ihr die Luft abschnürte.
El Cuento flog immer waghalsiger.
»Rasssch! Schnelll«, heulte er.
Tauchte ab.
Catalina rutschte hinter den Jungen. Sie hielt sich selbst mit einer Hand an den Flickenfetzen fest und umschlang Jordi von hinten mit der anderen. Er durfte jetzt nicht den Halt verlieren. Sie spürte, wie sein ganzer Körper zitterte. Er wurde schon ganz kalt.
Unter ihnen schimmerten die Wasserwege und Kanäle, die das Bild von Eixample und Pla Cerdà prägten.
Nie zuvor war Catalina in dieser Gegend gewesen. Zu weit entfernt war sie von Montjuic, als dass sie, einfach so, einen Abstecher dorthin unternommen gehabt hätte. Márquez hatte sie immer nur in die Gassen von Dalt Vila geschickt.
Der Gedanke an den Kartenmacher ließ ein trockenes Schluchzen in die Kehle aufsteigen. Was, wenn Jordi nun ein ähnliches Schicksal erwartete? Catalina wusste, sie würde es nicht ertragen, wenn noch ein Mensch ihretwegen in die Gewalt der Schatten kam.
Du musst ihm helfen!
Irgendwie!
»Bitte, Catalina!« Diesmal flüsterte er nur noch. Sie spürte, wie er sich loszureißen versuchte.
»Jordi, nein!«, schrie sie ihn an. Was hatte er vor?
Sein ganzer Körper bäumte sich auf. Er strampelte wie wild und schlug mit beiden Händen um sich. Catalina hatte alle Mühe, ihn festzuhalten. Wenn sie ihn losließe, dann würde er in die Tiefe stürzen und –
Das war es!
Genau das wollten die Schatten bewirken.
Mit blankem Entsetzen wurde dem Mädchen klar, dass sich Jordi freiwillig in die Tiefe stürzen wollte. Er sah keinen Ausweg mehr und deswegen wollte er einfach nur loslassen und springen.
»Nein, nein, nein!«, schrie Catalina und bot alle Kraft auf, um den Jungen auf dem Flickenfetzen zu halten.
El Cuento flog weiter, doch die Fledermausschatten ließen sich nicht abschütteln.
Catalina spürte, wie Tränen der Wut und Verzweiflung ihr die Sicht trübten.
»Schau nach vorne!«, rief El Cuento ihr zu.
Catalinas Blick irrte über die bunten Häuser, deren stufenförmige Fassaden an ihnen vorbeirasten. Es gab Erker mit knochenförmigen Säulen, Balkone, die an menschliche Schädel erinnerten, Mauerwerk, das der Schuppenhaut von Drachen und Eidechsen nachempfunden war. Lichthöfe mit blauen Kacheln und filigranen Mosaiken auf den Böden taten sich vor ihnen auf.
Ein großes Haus mit schmalen Balustraden kam in ihr Blickfeld. Eine feine Gesellschaft befand sich auf dem Dach und feierte ein Fest. Große Fackeln beleuchteten die ausgelassenen Gäste.
»Was hast du vor?«
El Cuento antwortete ihr nicht.
Catalina spähte über ihre Schulter. Mist! Noch immer waren ihre Verfolger hinter ihnen her.
Schneller und schneller raste der Flickenfetzen auf das riesige Haus zu. Die Geräusche vom Dach nahmen langsam Gestalt an, wenn auch verwischt. Leises Stimmengewirr, tuschelndes Gemurmel, dazwischen beschwingte Musik, lustiges Lachen, klimperndes Klappern von edlem Essgeschirr.
Catalina begann zu ahnen, was der Wind vorhatte.
»Lass mich los!«, schrie Jordi.
Sie klammerte sich fest an ihn. »Vergiss es!«
»Es tut so weh.« Wie verkohltes Holz sahen die Finger inzwischen aus.
»Der Wind hat einen Plan, glaub mir«, rief Catalina, doch Jordi antwortete nicht.
El Cuento setzte zum Sturzflug an, schon wieder.
Jetzt drehten sich die ersten Köpfe auf der Dachterrasse nach ihnen um, fragende Blicke trafen den sich nähernden Flickenfetzen. Einen kurzen Augenblick lang musste das Mädchen daran denken, was für ein Anblick sie wohl für die fein gekleideten Menschen wären. Doch dann wich die Fröhlichkeit dieses Gedankens der Furcht, dass es nicht funktionieren würde, was sie vorhatten.
Was würde dann aus Jordi werden? Nein, nein, so weit durfte es einfach nicht kommen! Wenn es den Jungen nicht gegeben hätte, dann wäre der Fledermausschatten mitten in ihrem Gesicht gelandet.
El Cuento wurde langsamer. Der Flickenfetzen glitt im Sinkflug auf die Fackeln zu. Die Musik auf dem Dach verstummte. Die Menschen hatten sich in kleinen Grüppchen zusammengescharrt und starrten sie an.
Wir sind die Sensation des Abends, dachte Catalina nur.
Und dann ging alles sehr schnell.
El Cuento führte den Flickenfetzen an einer der Fackeln vorbei und instinktiv ahnte Catalina, was von ihr verlangt wurde.
»Tut mir leid«, flüsterte sie. Dann ergriff sie Jordis Unterarm, und bevor der Junge wusste, wie ihm geschah, hielt das Mädchen die von Schatten bedeckte Hand in die große Flamme hinein. Die Hitze spürte sie selbst auf
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