Malfuria. Das Geheimnis der singenden Stadt
erklärte er.
Dann wendete er sich wieder dem Mädchen zu. »Malfuria ist der Ort, an dem sich das gesamte Wissen der Hexen befindet. Es ist ein Ort, der durch die Lüfte zieht. Malfuria ist ein Sturm aus Rabenfedern. Riesig, mächtig, von unglaublicher Anmut. Malfuria ist eine wirbelnde Welt voller Wunder. Nur wenige haben ihn je betreten dürfen.« Er zwinkerte ihr zu. »Malfuria wird uns in der Kathedrale abholen. Ich habe eine Feder losgeschickt, um ihn zu rufen.«
Catalina hatte das Gefühl, dass immer nur Neues auf sie einstürmte.
»Ein Sturm aus Rabenfedern wird uns dort abholen?«
»Das sagte ich doch.«
»Was wird er tun?«
Ramon sah sie entnervt an. »Er wird uns abholen.«
Tolle Antwort! »Und dann?«
»Von hier fortbringen.«
Catalina dachte an Jordi. Nein, sie wollte nicht von hier fortgebracht werden. Sie musste zurück in die Stadt und das Unheil, das Jordi drohte, irgendwie verhindern.
»Wir sollen Barcelona den Schatten überlassen?«
»Hast du eine bessere Idee?«
Sie hasste diese Frage. Nein, sie hatte keine bessere Idee, noch nicht.
»Wo wird er uns hinbringen?«
Ramon zuckte die Achseln.
»Irgendwohin, wo wir in Sicherheit sind.«
»Na, klasse.« Catalina versuchte aufzustehen. Ihr Knöchel tat noch immer weh und ihr schwindelte, wenn sie zu ihren Füßen die Decke des Tunnels unter der Wasserfläche dahingleiten sah.
In was bin ich da nur hineingeraten?, fragte sie sich. Sie stand mitten in dieser verdrehten Welt und die Gezeitengondel brachte sie zu einem neuen Ziel, von dem sie nicht einmal wusste, ob es ein richtiges Ziel war.
Schatten, Raben, Stürme aus Rabenfedern.
Herrje, es war einfach zu viel.
Sie blickte in Schächte, die unter der Wasseroberfläche in die Tiefe hinabführten und aus denen Licht in die Dunkelheit drang. Sie dachte daran, dass diese Schächte eigentlich nach oben führten und es das Tageslicht war, das sie da sah.
Wer ist denn nun verkehrt herum?, fragte sich Catalina auf einmal. War sie diejenige, die an der falschen Stelle stand und die Welt verkehrt herum sah? Oder war sie an der Stelle, an der sie die Welt richtig herum sah? Welcher Standpunkt war die Wahrheit?
Sie musste wieder an die Schatten denken und an die Karten, die sie in der Windmühle gezeichnet hatte. Das Pergament war die Oberfläche gewesen, auf der sie gemalt hatte. So war die gezeichnete Welt entstanden, mit Tusche und Pinsel und allergrößter Sorgfalt. Man musste die Tusche sorgsam mit einem Schwamm abtupfen, damit sie nicht durchfärbte. Tat man das nicht, dann sickerte die schwarze Farbe durch das Papier hindurch und es entstanden unschöne Kleckse und verschmierte Spiegelbilder auf der Rückseite der Karte.
Wo ist oben und wo ist unten?, fragte sich Catalina. Was ist, wenn man die Karte einfach umdreht? Ist dann nicht das, was vorher die Unterseite war, jetzt die Oberseite? Und wenn die Oberseite die Wirklichkeit war, die Welt des Lichts, die Welt, so wie sie aussah, was war dann die Unterseite? War sie einfach nur das schattenhafte Abbild der wirklichen Welt? Oder war die wirkliche Welt gar nicht so wirklich und nur ein Abbild der dunklen Zerrbilder und Kleckse?
Mit einem Mal verstand Catalina, warum die Schatten sie in ihre Gewalt bringen wollten.
Das sollte sie zeichnen.
Die umgekehrte Welt, die eine Welt der Schatten war. Denn dort würden die Schatten leben können.
Aber wie wollten sie das bewerkstelligen? Nie würde sie aus freiem Willen eine Karte zeichnen und eine Welt erschaffen, in der die Menschen nicht zu leben vermochten. Wer sollte sie dazu zwingen? Und wie?
Sie schloss die Augen und atmete tief durch.
Das hier war zu groß für sie. Sie war nur ein Mädchen. Eine Kartenmacherin, die nicht einmal ausgelernt hatte.
»Wir sind da!« Ramon ging zum Bug der Gezeitengondel, die jetzt langsamer wurde.
Unten im Wasser konnte Catalina den Himmel erkennen. Der Fluss fand also seinen Weg zurück an die Oberfläche. Sie erkannte einen hölzernen Steg, dahinter einen riesigen Platz. Gigantische Spitztürme ragten in die Tiefe, wo sie den blauen Himmel zu berühren schienen.
Catalina rieb sich die Augen. Die verdrehte Perspektive verursachte ihr Kopfschmerzen.
Sie kannte die riesige Kathedrale, Marquez war ein paar Mal mit ihr dort gewesen. Zusammen hatten sie die schmal in den Himmel ragenden Türme mit ihren seltsamen Fransen und die Sankritbilder in den hohen Fenstern bestaunt.
Doch nun sah sie eine Sagrada Família, die nach unten geneigt war. Wo vorher
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