Malice - Du entkommst ihm nicht
wanderten immer wieder zu dem Comic zurück.
Dass er so unheimlich war, lag nicht nur an seinem erschreckenden Inhalt. Das Heft war in einzelne Abschnitte unterteilt, von denen jeder die Signatur des Zeichners und den Titel Malice trug. Aber es war keine fortlaufende Handlung zu erkennen. Manche Abschnitte begannen in der Mitte einer Geschichte, dann gab es plötzlich einen harten Schnitt und die nächste Geschichte fing an, bevor die erste geendet hatte und ohne dass man wusste, was der Hauptfigur in der Zwischenzeit passiert war.
Eigentlich waren es gar keine Geschichten, dachte Kady, sondern willkürlich aneinandergereihte Szenen. Szenen, die einem das Blut in den Adern gefrieren ließen.
Sie öffnete ihren Instant Messenger, aber Jess war nicht online. Wahrscheinlich ist sie gerade draußen und genießt die Sonne, dachte sie. Dann fiel ihr ein, dass Jess in San Francisco wohnte. Genießt den Nebel , korrigierte sie sich selbst.
Plötzlich ertönte aus dem Schrank ein lang gezogener Klagelaut, der ihr einen Schauer über den Rücken jagte.
Kady fuhr herum und starrte auf die Schranktür aus Birkenfurnier von IKEA. Greg war zwar reich, aber er gab sein Geld nicht so gern für teure Designermöbel aus. Das war bestimmt bloß Marlowe , versuchte sie sich zu beruhigen und dachte daran, dass sich Katzen manchmal wie weinende Babys anhörten. Wahrscheinlich hat er sich in meine Pullis gekuschelt und ist eingeschlafen und ich hab ihn aus Versehen eingesperrt.
Aber warum stand sie dann nicht auf und ließ ihn heraus?
Weil dieser Schrei sich nicht nach Marlowe angehört hatte.
Sie saß wie angewurzelt da und starrte auf die Schranktür. Wovor hatte sie solche Angst? Dieser dämliche Comic ging ihr wirklich mehr an die Nieren, als sie gedacht hätte. Wenn sie nicht aufpasste, fing sie auch noch an, daran zu glauben, genau wie Seth.
Aber das würde bedeuten, dass sie mit eigenen Augen gesehen hatte, wie einer ihrer besten Freunde von einem grauenhaften Schattenwesen getötet worden war, und das konnte und wollte sie nicht glauben.
Aus dem Inneren des Schranks war jetzt ein leises, beharrliches Kratzen zu hören. Was auch immer da drin wa r – es wollte herausgelassen werden.
Kady stand zögernd auf und ging langsam auf den Schrank zu. Wieder ertönte ein Wimmern, leiser diesmal und ein wenig drohend, wie von einer Katze, die einen Hund verjagen will.
»Hey, Marlowe«, lockte sie sanft. »Hey, Süßer. Bist du da drin?«
Wer sollte es denn sonst sein?
Sie streckte die Hand aus, griff nach der Tü r …
NichtaufmachenNichtaufmachenNichtaufmachen!
… und riss sie auf.
Da saß er. Und flitzte im nächsten Moment als silbergrau-schwarz gestreifter Blitz zwischen ihren Beinen hindurch, sprang mit einem eleganten Satz aufs Bett und machte es sich in der warmen Kuhle bequem, die ihr Körper in der Decke hinterlassen hatte.
»Gott, hast du mich erschreckt!«, schimpfte sie. Marlowe kniff bloß die Augen zusammen und schnurrte zufrieden.
»Was hast du da drin überhaupt zu suchen gehabt?« Kady spähte in den Schrank, auf dessen Boden ein Stapel alter Zeitschriften und Briefe lag. Kady hatte überall solche Haufen herumliegen, weil sie sich nur sehr schwer von Dingen trennen konnte. Sie hob alles auf, was irgendwie mit einer Erinnerung verbunden war, selbst so hässliche Dinge wie die Skulptur in ihrem Bücherrega l – der Krake, der das Ei umklammerte.
Marlowe hatte den Stapel gründlich durcheinandergebracht. Kady begann die Zeitschriften auszuräumen, die sie aufgehoben hatte, weil Artikel über einen Sänger darinstanden, in den sie mal total verknallt gewesen war. Mittlerweile konnte sie zwar überhaupt nicht mehr verstehen, was sie jemals an ihm gefunden hatte, brachte es aber trotzdem nicht übers Herz, sie wegzuwerfen. Außerdem enthielt der Stapel alte Briefe von Freunden und ein Album mit gepressten Blumen.
Und eine Zeitung. Sie griff verwundert danach und betrachtete sie stirnrunzelnd. Es war eine Ausgabe der London Metro , einer kostenlosen Zeitung, die überall in London auslag. Sie war ungefähr ein Jahr alt, stammte also aus der Zeit, kurz bevor sie nach San Francisco zurückgekehrt war. Anscheinend war sie mit ihren anderen Sachen eingepackt worden, als sie ein paar Monate später nach Hathern gezogen waren.
Warum habe ich die aufgehoben?
Kady versuchte vergeblich sich zu erinnern. Dein Gehirn ist in letzter Zeit löchriger als ein Sieb , schimpfte sie mit sich selbst. Ständig vergaß sie
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