Malice - Du entkommst ihm nicht
sodass jeder von ihnen jeweils nur eine mitnehmen konnte, da sie sonst keine Hand mehr frei gehabt hätten, um sich notfalls verteidigen zu können, wogegen auch immer.
Justin hatte Seth während der Zugfahrt alles erzählt, was er über die Oubliette wusste: von der vollkommenen Dunkelheit, die dort herrschte, den heimtückischen Fallen, mit denen sie auf Schritt und Tritt rechnen mussten, und den Schlingmolchen, die überall lauern konnte n – grauenhafte Geschöpfe, die als extrem bissig und verfressen galten. Und dann gab es da noch die Gerüchte über ein schreckliches Monster, das angeblich in den Tiefen der Oubliette hauste. Skarla lebte offenbar in einer der tödlichsten Domänen von ganz Malice.
Das war ja klar, dachte Seth.
Justin deutete mit einladender Geste auf die Leuchtblasen. »Such dir eine aus, Alter. Hoffentlich hast du Glück.«
Seth sah sich die verschiedenen Leuchtblasen ganz genau an und suchte nach einer, die so aussah, als wäre sie vielleicht besonders langlebig. War die dahinten nicht eine Spur heller als die anderen? Aber was ließ sich daraus schließen? Würde sie schneller verglühen oder langsamer?
Irgendwann gab er es auf und wählte einfach eine aus. Ein leises Plopp ertönte, als er sie vom Strunk trennte. Justin hatte sich inzwischen auch entschieden. »Vorsicht, die Dinger sind zerbrechlich«, warnte er. »Lass sie bloß nicht fallen.«
Als Seth zum Zug schaute, sah er den Schaffner in der Tür stehen und zu ihnen rüberstarren. Jetzt gab es kein Zurück meh r – er hatte ihre Tickets behalten. Von nun an gab es nur noch einen Weg: abwärts.
Es war eine lange Fahrt gewesen. Irgendwann waren sie beide eingenickt. Als sie aufgewacht waren, hatten sie neben sich eine mit Wasser gefüllte Kürbisflasche und zwei graue Kekse gefunden. Sie waren steinhart gewesen und hatten nach Pappe geschmeckt, aber ausgehungert, wie sie waren, hatten sie sie gierig hinuntergeschlungen. Außerdem konnten sie es sich sowieso nicht leisten, anspruchsvoll zu sein.
»Immer noch besser als die Schweinepampe«, hatte Justin grinsend verkündet, während er nach allen Richtungen Kekskrümel versprühte. »Schätze, das Essen ist im Fahrpreis inbegriffen.«
Während sie aßen, schoss der Zug plötzlich aus dem Tunnel heraus und raste in taghelles Licht hinein. Fremdartig aussehende Vögel tauchten auf und flatterten neben ihnen her.
Als sie über eine hohe Brücke ratterten, die ein Tal an seiner schmalsten Stelle überspannte, zeigte sich ihnen für einen kurzen Moment die Welt von Malice unter einem wolkenverhangenen düsteren Himmel. Seth sah in der Ferne die Umrisse einer Stadt, zu der eine labyrinthartige Anlage und ein riesiger Friedhof gehörten. Auf der anderen Seite des Tals ragte der Uhrenturm in die Höhe.
Staunend blickte er aus dem Bullauge und dachte: Da draußen existiert eine ganz eigene Welt.
Und dann tauchte der Zug wieder in einen Tunnel ein, den er bis zum Ende ihrer Reise nicht mehr verlassen sollte.
»Ist es in den anderen Domänen genauso wie im Uhrenturm und der Oubliette?«, wollte er von Justin wissen.
Justin schüttelte den Kopf. »Gefährlich ist es natürlich überall, aber es gibt auch Domänen, die nicht ganz so übel sind. Ein paar Jugendliche leben in Nekropolis. Ich glaub, dass es denen dort ganz gut geht. Man muss natürlich mit den Bewohnern klarkommen, die sind vielleicht nicht jedermanns Fall. Außerdem gibt es noch die Sümpfe, den Grabhügel und ein paar andere Ecken. Malice ist verdammt groß. Wenn du lang genug suchst, kannst du hier auf jeden Fall deinen Platz finden.«
Seth hätte Justin gern gefragt, ob er seinen Platz schon gefunden hatte, spürte aber, dass er ihm keine Antwort geben würde. Welche Gründe er auch immer hatte, ihm zu helfen und ihn auf seiner Reise zu begleite n – Justin würde sie ihm mitteilen, wenn er der Meinung war, dass der richtige Zeitpunkt dafür gekommen war. Natürlich war Seth neugierig, aber im Moment war er einfach nur froh, einen Begleiter zu haben. Er hätte wenig Lust gehabt, alleine in die Oubliette hinabzusteigen.
»Wenn wir hier noch länger abhängen, stehen wir bald ohne Licht da«, riss Justin ihn aus seinen Grübeleien.
Seth nickte. »Dann mal los.«
Die Steintüren des Portals sahen so schwer aus, dass es Seth unmöglich erschien, sie aufzuschieben. Doch dann entdeckten sie, dass eine der Türen einen Spaltbreit geöffnet war, durch den sie hindurchschlüpfen konnten. Seth blieb vor einem der Podeste
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