Malina
vor dem Spiegel und lächle ihn pflichtschuldig an. Aber Malina sagt: (Sagt Malina etwas?) Malina sagt: Töte ihn! töte ihn!
Ich sage etwas. (Aber sage ich wirklich etwas?) Ich sage: Ihn allein kann ich nicht töten, ihn allein nicht. Zu Malina sage ich scharf: Du irrst dich, er ist mein Leben, meine einzige Freude, ich kann ihn nicht töten.
Aber Malina sagt unhörbar und unüberhörbar: Töte ihn!
Ich zerstreue mich und lese nur mehr wenig. Am späten Abend erzähle ich Malina, während leise das Grammophon läuft:
Im Psychologischen Institut in der Liebiggasse haben wir immer Tee oder Kaffee getrunken. Einen Mann kannte ich dort, der stenografierte immer, was alle redeten, und manchmal auch andere Dinge. Ich kann keine Stenografie. Manchmal testeten wir einander mit dem Rohrschachtest, dem Szonditest, dem TAT und stellten Charakter- und Persönlichkeitsdiagnosen, trieben Leistungs- und Verhaltensbeobachtung und Ausdrucksuntersuchungen. Einmal fragte er, mit wie vielen Männern ich schon geschlafen hätte, und mir fiel nichts ein außer diesem einbeinigen Dieb, der im Gefängnis saß, und einer von Fliegen verdreckten Lampe in einem Stundenhotel in Maria Hilf, aber ich sagte aufs geratewohl: mit sieben! Er lachte überrascht und sagte, dann würde er mich natürlich gerne heiraten, wir würden sicher gescheite Kinder bekommen, auch sehr hübsche Kinder, und was ich davon hielte. Wir fuhren in den Prater, und ich wollte auf das Riesenrad, denn damals hatte ich nie Angst, aber oft Glücksgefühle wie beim Segelfliegen und beim Skilaufen später, ich konnte vor lauter Glück stundenlang lachen. Dann haben wir natürlich nie mehr darüber gesprochen. Kurz danach mußte ich mein Rigorosum machen, und an dem Morgen vor dendrei großen Prüfungen ist im Philosophischen Institut aus dem Ofen die ganze Glut herausgefallen, ich habe einige Kohle- oder Holzstücke zertreten, ich lief um eine Schaufel und einen Besen, denn die Bedienerinnen waren noch nicht gekommen, es glühte und rauchte so fürchterlich, ich wollte nicht, daß ein Brand entstünde, ich habe mit den Füßen auf der Glut herumgetreten, es hat noch tagelang danach gestunken im Institut, meine Schuhe waren versengt, aber es ist nichts abgebrannt. Auch die Fenster habe ich noch alle aufgemacht. Trotzdem kam ich noch zurecht, zur ersten Prüfung um acht Uhr morgens, ich sollte mit einem anderen Kandidaten dort sein, der kam aber nicht, in der Nacht hatte ihn der Gehirnschlag getroffen, ich erfuhr es, noch ehe ich hineinging, um über Leibniz, Kant und Hume abgeprüft zu werden. Der alte Hofrat, der damals auch Rektor war, trug einen schmutzigen Schlafrock, er hatte zuvor noch einen Orden aus Griechenland bekommen, wofür weiß ich nicht, und er fing zu fragen an, sehr verärgert über das Ausbleiben eines Kandidaten durch Ableben, aber ich zumindest war ja erschienen und noch nicht tot. Er hatte nur vor Ärger vergessen, welches Gebiet ausgemacht war, und zwischendurch rief jemand an, ich glaube, seine Schwester, wir waren einmal bei den Neukantianern, dann wieder bei den englischen Deïsten, aber noch immer recht weit wegvon Kant selber, und ich wußte nicht sehr viel. Nach dem Telefonieren ging es besser, ich kam geradewegs auf das Vereinbarte zu sprechen, und er bemerkte es nicht. Ich stellte ihm eine furchtvolle Frage, die das Raum- und Zeitproblem betraf, eine, zugegeben, damals für mich noch bedeutungslose Frage, ihm aber schmeichelte es sehr, daß ich eine Frage hatte, und dann war ich entlassen. Ich rannte zurück in unser Institut, es brannte nicht, und ich ging in die zwei nächsten Prüfungen. Ich habe sie alle bestanden. Ich bin mit dem Raum- und Zeitproblem aber später nie fertig geworden. Es wuchs und wuchs.
Malina: Warum fällt dir das ein? Ich dachte, diese Zeit sei ganz unwichtig für dich gewesen.
Ich: Unwichtig war das Rigorosum, aber als es vorbei war, immerhin ein Rigorosum, das Wort sagt ja schon alles, und den anderen hatte ein Gehirnschlag getötet, dreiundzwanzigjährig, mußte ich den Weg vom Institut zur Universitätsstraße gehen, an der ganzen Seitenmauer der Universität vorbei, und ich tastete mich an der Mauer entlang, über die Straße kam ich auch noch, denn sie warteten im Café Bastei auf mich, Eleonore und Alexander Fleisser, ichmuß am Umfallen gewesen sein, mit einem niedergeschlagenen Gesicht, sie hatten mich durch die Fenster schon gesehen, ehe ich sie sah. Als ich zum Tisch kam, sagte keiner ein Wort, sie
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