Malina
aber während ihre heimlichen Gedanken in der Poliklinik sind und beim Wohnungseinrichten, füllt sie für mich Formulare aus, sie hantiert in der Ablage, in der ein unglaubliches Durcheinander herrscht, sie entdeckt jetzt Briefe, kiloweise, aus den Jahren 1962, 1963, 1964, 1965, 1966, sie sieht ihre Bemühungen vereitelt, mit mir zu einer Ordnung zu kommen, die sie abwechselnd mit den Worten ›ablegen‹, ›abheften‹, ›nach verschiedenen Gebieten ordnen‹ beschwört, sie will alphabetisch vorgehen, sie will nach den Jahrgängen vorgehen, Geschäftliches vom Privaten trennen, Fräulein Jellinek wäre zu allem imstande, aber ich kann ihr nicht gut sagen, daß mir jede Zeit verschwendet vorkommt auf solche Unternehmen, seit ich Ivan kenne, daß ich selber in Ordnung kommen muß und eine Ordnung für diesen Papierwust immer gleichgültiger wird. Ich nehme mich noch einmal zusammen und diktiere:
Sehr geehrte Herren,
ich danke für Ihren Brief vom 26. Jänner.
Sehr geehrter Herr Schönthal,
die Person, an die Sie sich wenden, die Sie zu kennen meinen, die Sie sogar einladen, die gibt es nicht. Ich will versuchen, obwohl es sechs Uhr morgens ist und mir diese Zeit die richtige zu sein scheint für eine Erklärung, die ich Ihnen und so vielen anderen Menschen schuldig bin, obwohl es sechs Uhr morgens ist und ich längst schlafen müßte, aber es gibt so vieles, was mich nie mehr schlafen läßt. Sie haben mich ja nicht zu einem Kinderfest oder einem Mäusefest eingeladen, und die Veranstaltungen, die Feste, entspringen gewiß einer gesellschaftlichen Notwendigkeit. Sie sehen, ich versuche durchaus, die Sache auch von Ihrer Seite aus zu sehen. Ich weiß, wir hatten einen Termin ausgemacht, ich hätte Sie zumindest anrufen sollen, aber meine Situation zu schildern, dazu fehlen mir die Worte, auch gebietet das der Anstand, der es verbietet, über gewisse Dinge zu reden. Die freundliche Fassade, die Sie sehen, auf die ich selber mich zuweilen verlasse, hat leider immer weniger mit mir zu tun. Daß ich schlechte Manieren habe, Sie also aus Ungezogenheit warten lasse, werden Sie nicht glauben, da Manieren fast das einzige sind, was mir geblieben ist,und hätte man je in den Schulen ›Manieren‹ auf den Lehrplan gesetzt, so wäre das gewiß das Fach gewesen, das mir am meisten zugesagt und in dem ich am besten abgeschnitten hätte. Sehr geehrter Herr Schönthal, ich bin aber seit Jahren nicht mehr fähig, oft wochenlang, bis zu meiner Wohnungstür zu gehen oder das Telefon abzunehmen oder jemand anzurufen, es ist mir nicht möglich, und ich weiß nicht, wie mir zu helfen ist, wahrscheinlich ist mir nicht mehr zu helfen.
Ich bin auch ganz unfähig, an die Dinge zu denken, die man mir zum Denken verordnet, an einen Termin, an eine Arbeit, an eine Verabredung, nichts ist mir deutlicher um sechs Uhr morgens, als die Ungeheuerlichkeit meines Unglücks, da ein nicht endender Schmerz mich völlig und gerecht und gleichmäßig trifft in jedem Nerv, zu jeder Zeit. Ich bin sehr müde, ich darf Ihnen sagen, wie müde ich bin ...
Ich nehme das Telefon ab und höre die leiernde Stimme: Telegrammaufnahme, bitte warten, bitte warten, bitte warten, bitte warten, bitte warten. Auf ein Blatt kritzle ich mittlerweile: Dr. Walter Schönthal, Wielandstraße 10, Nürnberg. Kommen leider unmöglich stop Brief folgt.
Telegrammaufnahme, bitte warten, bitte warten, bitte warten. Es klickt, eine lebendige junge Frauenstimme fragt ausgeschlafen: Ihre Nummer bitte? danke, ich rufe zurück.
Ein ganzes Bündel Müdigkeitssätze haben wir, Ivan und ich, denn er ist oft schrecklich müde, obwohl er soviel jünger ist als ich, und ich bin auch sehr müde, Ivan ist zu lange aufgeblieben, er war mit einigen Leuten beim Heurigen in Nußdorf, bis fünf Uhr früh, dann ist er mit ihnen in die Stadt zurückgefahren, und sie haben eine Gulaschsuppe gegessen, das muß in der Zeit gewesen sein, in der ich den zweihundertsten Brief an Lily geschrieben habe und noch einiges andere, ein Telegramm habe ich wenigstens abgeschickt, und Ivan ruft an, mittags nach dem Büro, seine Stimme ist kaum zu erkennen.
Zu Tod erschöpft, ja erschöpft
Ich bin einfach tot
Nein, ich glaube nicht, gerade habe ich
Ich habe mich hingelegt, ich bin einfach
Endlich einmal, einmal werde ich ausschlafen
Ich werde heute ganz früh schlafen gehen und du
Ich bin schon am Einschlafen, aber heute abend
So geh doch einmal früher schlafen
Wie eine tote Fliege, kann ich dir gar
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