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Malina

Malina

Titel: Malina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingeborg Bachmann
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    Wenn du natürlich so müde bist
    Eben war ich noch furchtbar müde, zum Sterben
    Dann heute abend also lieber nicht
    Wenn du natürlich jetzt nicht so müde wärst
    Ich glaube, ich höre nicht recht
    Dann hör einmal genau zu
    Du bist doch am Einschlafen
    Jetzt natürlich nicht, ich bin doch nur müde
    Du mußt aber die Müdigkeit ausschlafen
    Ich habe das Haustor offengelassen
    Müde bin ich schon, aber du mußt ja müder sein
    ......
    Jetzt natürlich, wann denn sonst
    ......
    Ich will dich sofort hierhaben!
    Ich werfe den Hörer hin, werfe meine Müdigkeit ab, laufe die Stiege hinunter und schräg über die Straße. Das Haustor Nummer 9 ist angelehnt, die Zimmertür angelehnt, und jetzt wiederholt Ivan noch einmal alle Sätze über Müdigkeit und ich auch alle, bis wir zu müde und zu erschöpft sind, um uns das Ausmaß der Erschöpfungen vorklagen zu können, wir hören zu reden auf und machen einander wach, trotz der größten Müdigkeit, und bis der Weckdienst 00 anruft, höre ich nicht auf, Ivan, der noch eine Viertelstunde schlafen darf, im Halbdunkel anzusehen, zu hoffen, zu betteln und zu meinen, einen Satz gehört zu haben, der nicht nur von der Müdigkeit gekommen ist, einen Satz, der mich versichert in der Welt, aber um meine Augen zieht sich etwas zusammen, die Absonderung aus den Drüsen ist so gering, sie reicht nicht einmal für eine Träne in jedem Augenwinkel. Genügt ein Satz denn, jemand zu versichern, um den es geschehen ist? Es müßte eine Versicherung geben, die nicht von dieser Welt ist.
    Wenn Ivan eine ganze Woche keine Zeit hat, was mir erst heute zum Bewußtsein gekommen ist, kann ich mich nicht mehr fassen. Es kommt grundlos, es ist sinnlos, ich habe Ivan sein Glas mit den drei Eiswürfeln hingestellt, aber mit meinem Glas stehe ich sofort auf und gehe zum Fenster, ich müßte einen Weg aus dem Zimmer finden, vielleicht unter dem Vorwand, ins Bad zu gehen, im Vorbeigehen könnte ich tun, als suchte ich ein Buch in der Bibliothek, obwohl Buch und Badezimmer keinen Zusammenhang ergeben. Ehe ich aus dem Zimmer hinausfinde, ehe ich mir vorrede, daß in dem Haus vis-à-vis immerhin Beethoven taub die Neunte Sinfonie, aber auch noch anderes, komponiert hat, aber ich bin ja nicht taub, ich könnte Ivan einmal erzählen, was alles außer der Neunten Sinfonie – abernun kann ich nicht mehr aus dem Zimmer, denn Ivan hat es schon bemerkt, weil ich die Schultern nicht mehr ruhig halte, weil das kleine Taschentuch auch nicht mehr ausreicht, die Tränen aufzusaugen, an dieser Naturkatastrophe muß Ivan schuld sein, auch wenn er gar nichts getan hat, denn soviel weinen kann man gar nicht. Ivan nimmt mich an der Schulter und führt mich zum Tisch, ich soll mich hinsetzen und trinken, und ich will mich weinend entschuldigen für das Weinen. Ivan ist ganz erstaunt, er sagt: Wieso sollst du denn nicht weinen, wein doch, wenn es dir paßt, wein doch, soviel du kannst, noch ein wenig mehr, du mußt dich einfach ausweinen.
    Ich weine mich aus, und Ivan trinkt einen zweiten Whisky, er fragt mich nicht, er greift nicht mit Trost ein, er ist nicht nervös und nicht irritiert, er wartet, wie man auf das Ende eines Gewitters wartet, hört das Schluchzen weniger werden, noch fünf Minuten, und er kann mir ein Tuch in Eiswasser tauchen, er legt es mir auf die Augen.
    Eifersüchtig sind wir aber hoffentlich nicht, mein Fräulein.
    Nein, das nicht.
    Ich weine noch einmal weiter, aber nur weil es jetzt so wohltuend ist.
    Natürlich nicht. Es hat überhaupt keinen Grund.
    Aber natürlich hat es einen Grund. Es war eine Woche ohne Injektionen von Wirklichkeit für mich. Ich möchte nicht, daß Ivan mich nach dem Grund fragt, aber das wird er nie tun, er wird mich hin und wieder weinen lassen.
    Ausweinen! wird er befehlen.
    In dieser animierten Welt einer Halbwilden lebe ich, zum ersten Mal von den Urteilen und den Vorurteilen meiner Umwelt befreit, zu keinem Urteil mehr über die Welt bereit, nur zu einer augenblicklichen Antwort, zu Geheul und Jammer, zu Glück und Freude, Hunger und Durst, denn ich habe zu lange nicht gelebt. Meine Fantasie, reicher als die Yagefantasie, wird endlich durch Ivan in Bewegung gesetzt, etwas Immenses ist durch ihn in mich gekommen und strahlt nun aus mir, immerzu bestrahle ich die Welt, die es nötig hat, von diesem einen Punkt aus, an dem nicht nur mein Leben sich zentriert, sondern mein Wille ›gut zu leben‹, um wieder brauchbar zu sein, denn ich möchte, daß

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