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Malina

Malina

Titel: Malina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingeborg Bachmann
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Amerikaner? Ivan spricht zu mir von einem schwierigen Nachmittag, schwierig im Büro, dazwischen gibt er rasche genaue Antworten nach hinten, zu mir spricht er von ›wenig Zeit‹, von Schwierigkeiten, er hat ausgerechnet heute die Kinder zum Zahnarzt bringen müssen. Der Doktor Heer hat Béla einen Zahn gezogen, András hat zwei kleine Plomben bekommen. Ich schaue nach hinten, Béla reißt den Mund auf, übertrieben weit, mit einer Grimasse, András will es ihm gleichtun, muß aber lachen, und jetzt ist die Gelegenheit da, ich frage nicht, ob es weh getan hat, ob Herr Doktor Heer ein netter Zahnarzt ist, sondern reiße auch den Mund auf und sage: Mir hat er aber den Weisheitszahn gezogen, ich habe nämlich schon Weisheitszähne, die habt ihr noch nicht! Béla schreit: Du, die lügt.
    Am Abend sage ich zu Ivan: Die Kinder sehen dir aber gar nicht ähnlich, Béla vielleicht ein wenig, wenn er nicht diese braunen Strubbelhaare hätte und helle Augen, wäre er ähnlicher! Ivan muß erraten haben, daß ich mich gefürchtet habe vor den Kindern, denn er lacht und sagt: War es so schlimm? du hast es doch richtig gemacht, nein, ähnlich sind sie mir nicht, aber sie können es auch nicht leiden, wenn man auf sie eingeht, wenn man sie fragt, was man eben so fragt, sie riechen den Braten! Ich schlage rasch vor: Wenn ihr am Sonntag ins Kino geht, dann könnte ich, falls es euch nichts ausmacht, auch mitkommen, ich möchte gerne wieder einmal ins Kino gehen, es gibt jetzt im Apollo einen Film, D IE WÜSTE LEBT . Ivan sagt: Den haben wir schon letzten Sonntag gesehen. Es ist also noch nicht klargeworden, ob mich Ivan ein andermal mitnehmen wird oder ob das mit dem Film eine Ausrede war, ob ich die Kinder noch einmal wiedersehen werde oder ob Ivan seine beiden Welten, falls es nicht mehr Welten sind, für immer getrennt halten will. Wir fangen eine Schachpartie an und müssen nicht mehr reden, es wird eine langwierige, umständliche, stockende Partie, wir kommen nicht weiter, Ivan greift an, ich bin in der Verteidigung. Ivans Angriff kommt zum Stehen, es ist die längste, stummste Partie, die wir je gespielt haben, Ivan hilft mir kein einziges Mal, und wir spielen die Partie heute nicht zu Ende. Ivan hat mehr Whisky als sonst getrunken, er steht müde, Ivanflüche ausstoßend, auf, er geht ein paar Schritte auf und ab und trinkt noch im Stehen weiter, er hat keine Lust mehr, es war ein schwieriger Tag, es hat kein Matt gegeben, aber wir sind auch zu keinem Patt gekommen. Ivan will sofort nach Hause und schlafen gehen, ich hätte dermaßen umständlich gespielt, zum Ermüden, er hätte auch ganz einfallslos gespielt. Gute Nacht!
    Malina ist nach Hause gekommen, er findet mich noch im Wohnzimmer, das Schachbrett steht da, die Gläser habe ich noch nicht in die Küche getragen. Malina, der nicht wissen kann, wo ich gesessen bin, weil ich in der Ecke neben der Stehlampe auf dem Schaukelstuhl wippe, mit einem Buch in der Hand, RED STAR OVER CHINA , beugt sich über das Schachbrett, pfeift leise und sagt: Haushoch hättest du verloren! Ich bitte, was heißt ›haushoch‹, und ich hätte vielleicht doch nicht verloren. Aber Malina erwägt und rechnet die Züge aus. Wie kann er wissen, daß ich Schwarz gehabt habe, denn Schwarz hätte, seiner Rechnung nach, am Ende verloren. Malina greift nach meinem Whiskyglas. Wie kann er wissen, daß es mein Glas ist und nicht das Glas, das Ivan, auch halbvoll, stehengelassen hat, aber er trinkt nie aus Ivans Glas, er rührt nichts an, was Ivan kurz vorher berührt hat, benutzt hat, einen Teller mit Oliven oder mit Salzmandeln. Seine Zigarette drückt er in meinem Aschenbecher aus und nicht in dem anderen, der heute abend Ivans Aschenbecher war. Ich komme zu keinem Schluß.
    Ich habe China verlassen an der Stelle: Feindliche Truppen setzten sich eilig von Südosten aus in Marsch, andere von Norden. Lin Piao berief sofort eine Militärkonferenz ein.
    Ivan und ich: die konvergierende Welt.
    Malina und ich, weil wir eins sind: die divergierende Welt.
    Nie habe ich Malina so wenig brauchen können, er weiß immer weniger anzufangen mit mir, aber wenn er nicht rechtzeitig nach Hause gekommen wäre, mich vorfände zwischen dem großen Marsch durch China und einem Gedankengang über Kinder, die Ivan nicht ähnlich sehen, würde ich wieder zurückfallen in schlechte Gewohnheiten, Briefe schreiben, Hunderte, oder trinken und zerstören, zerstörerisch denken, alles zerstören und das letzte zerstören, ich

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