Malina
anderen die Hand drückt. Sie geht voraus im Korridor, es ist schon die neue Wohnung, und es ist mir klar, daß Melanie schwanger ist. In der Wohnung steht meine Lina mit gesenktem Kopf, mit meinem Kommen hat sie nicht mehr gerechnet, denn in dieser Wohnung wird sie Rita genannt, damit nichts mehr an mich erinnert. Die Wohnung ist riesig, besteht aber nur aus einem ganz schmalen und einem immensen Raum, die Aufteilung geht auf die Architekturideen meines Vaters zurück, ich kenne seine Ideen, sie sind nicht zu verkennen. Unter den Möbeln sehe ich mein blaues Sofa aus der Beatrixgasse, und da mein Vater mit dem Einrichten beschäftigt ist, spreche ich ihn an, in dem großen Raum. Mein Vater, dem ich Vorschläge mache, wegen des blauen Sofas und einiger anderer Dinge, hört nicht zu, er geht mit einem Zollstab auf und ab, mißt die Wände, die Fenster und die Türen, denn er hat wieder etwas Großes vor. Ich frage ihn, ob ich es ihm jetzt mündlich oder später schriftlich erklären soll, welche Ordnung ich wünsche, und wie es ihm lieber sei. Er bleibt beschäftigt und gleichgültig und sagt nur: Beschäftigt, ich bin beschäftigt! Ehe ich die Wohnung verlasse, sehe ich mir einigesan, hoch oben an der Wand ist ein gefiederter komischer Wandschmuck, viele kleine tote Vögel stehen ausgestopft in einer Nische, die rot beleuchtet ist, und ich sage vor mich hin, wie geschmacklos, es ist geschmacklos wie eh und je. Es war schon immer der Geschmack, der uns getrennt hat. Seine Gleichgültigkeit, seine Geschmacklosigkeit waren es, beide Worte verwirren sich in eines für mich, und Lina, die sich Rita nennen läßt, begleitet mich hinaus, ich sage, geschmacklos, hier hat nichts einen Geschmack, es ist gleichgültig hier, es wird immer gleich bleiben mit meinem Vater. Lina nickt verlegen, sie gibt mir heimlich die Hand, und jetzt möchte ich den Mut haben, ich möchte und muß die Tür laut zuwerfen, laut, wie mein Vater immer alle Türen zugeworfen hat, damit auch er einmal weiß, was es heißt, jemand DIE TÜR ZUWERFEN . Doch die Tür schnappt sanft ein, ich kann die Tür noch immer nicht zuwerfen. Vor dem Haus drücke ich mich an die Wand, ich hätte nicht in dieses Haus kommen dürfen, nie zu Melanie, mein Vater hat das Haus schon umstellen lassen, ich kann nicht zurück und ich kann nicht weg, aber über den Zaun könnte ich noch klettern, wo das Gebüsch sehr dicht ist, und in meiner Todesangst laufe ich auf den Zaun zu und klettere hinauf, es ist die Rettung, es wäre die Rettung, aber oben am Zaun verfange ich mich, es ist Stacheldraht, es sind Stacheln, mit 100 000 Voltgeladen, die 100 000 Schläge, elektrisch, bekomme ich, mein Vater hat die Drähte geladen, in alle meine Fasern rasen die vielen Volt. Ich bin an der Raserei meines Vaters verglüht und gestorben.
Ein Fenster geht auf, draußen liegt ein finsteres, wolkiges Land und ein See darin, der immer kleiner wird. Um den See herum liegt ein Friedhof, die Gräber sind genau zu erkennen, die Erde tut sich über den Gräbern auf, und für einen Augenblick stehen mit wehenden Haaren die gestorbenen Töchter auf, ihre Gesichter sind nicht auszumachen, die Haare fallen ihnen bis über die eine Hand, die rechte Hand aller Frauen ist erhoben und im Weißlicht zu sehen, sie spreizen die wächsernen Hände, es fehlen die Ringe, es fehlt der Ringfinger an jeder Hand. Mein Vater läßt den See über die Ufer treten, damit nichts herauskommt, damit nichts zu sehen ist, damit die Frauen über den Gräbern ertrinken, damit die Gräber ertrinken, mein Vater sagt: Es ist eine Vorstellung: WENN WIR TOTEN ERWACHEN .
Als ich aufwache, weiß ich, daß ich viele Jahre lang in keinem Theater mehr war. Vorstellung? Ich kenne keine Vorstellung, ich habe keine Vorstellung, aber es muß eine Vorstellung gewesen sein.
Malina: Du hast dir immer zuviel vorgestellt.
Ich: Aber damals konnte ich mir gar nichts vorstellen. Oder wir sprechen von Vorstellen und von Vorstellungen und meinen nicht das gleiche.
Malina: Ich gehe der Sache nach. Warum fehlt dein Ring? Hast du je einen Ring getragen? Du trägst doch nie einen Ring. Mir hast du gesagt, es sei dir unmöglich, einen am Finger zu tragen, etwas um den Hals oder um das Handgelenk oder meinetwegen um die Fesseln zu haben.
Ich: Im Anfang hatte er mir einen kleinen Ring gekauft, ich wollte ihn in der Ringschachtel steckenlassen, aber er fragte mich jeden Tag, wie mir der Ring gefalle und immer erinnerte er mich daran, daß ich
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