Malina
leben hat, erträgt fast jedes Wie. Aber in dem Satz heißt es auch, daß ich noch immer Schwierigkeiten mit meinem Vater habe und nicht damit rechnen kann, jetzt aus diesem Unglück herauszukommen. Eine ältere Frau, eine Wahrsagerin,bringt mir und einer abseits stehenden Gruppe, an die ich mich nicht anschließe, das Skifahren bei. Sie achtet darauf, daß jeder zum Stehen kommt, wo der Hang zu Ende ist. Wo ich zum Stehen komme, in der größten Erschöpfung, liegt ein Brief, er betrifft den 26. Jänner und hat etwas mit einem Kind zu tun, der Brief ist sehr kompliziert zusammengefaltet und mehrfach verschlossen. Er darf noch eine Weile nicht geöffnet werden – ist ganz von Eis verkrustet –, denn er enthält eine Wahrsagung. Ich mache mich auf den Weg durch den großen Wald, steige dann aus den Skiern und lege die Stöcke dazu, ich gehe zu Fuß weiter, in Richtung Stadt, bis zu den Häusern meiner Wiener Freunde. Auf den Hausschildern fehlen die Namen aller Männer. Ich versuche mit der letzten Kraft bei Lily zu läuten, ich läute, obwohl sie nie gekommen ist, noch immer verzweifelt über ihr Nichtkommen, aber ich gebe mich ruhig und erzähle ihr schon in der Tür, daß meine Mutter und Eleonore heute ankämen, um mich unterzubringen, in einer guten Anstalt, ich bräuchte keine Unterkunft und müsse sofort zum Flugplatz, ich weiß aber plötzlich nicht, ob ich nach Schwechat oder nach Aspern fahren muß, ich kann nicht auf beiden Flugplätzen gleichzeitig sein, ich weiß nicht einmal mehr, ob meine Mutter und meine Schwester wirklich mit den Flugzeugen kommen, ob es heute Flugzeuge gibt, ob meine Mutter und meine Schwesterüberhaupt kommen können und benachrichtigt sind. Benachrichtigt war ja nur Lily. Ich bringe den Satz nicht zustande, ich möchte schreien: Benachrichtigt warst ja nur du! und was hast du getan, du hast nichts getan, du hast es nur ärger gemacht!
Da alle Männer aus Wien verschwunden sind, muß ich mich einmieten bei einem jungen Mädchen, in einem Zimmer, das nicht größer als mein Kinderzimmer ist, auch mein erstes großes Bett steht darin. Plötzlich verliebe ich mich in das Mädchen, ich umarme sie, während Frau Breitner, meine Hausmeisterin aus der Ungargasse (oder die Baronin aus der Beatrixgasse), nebenan liegt, dick und schwer, sie merkt schon, daß wir einander umarmen, obwohl wir mit meiner großen blauen Decke zugedeckt sind. Sie ist nicht empört, aber sie sagt, das habe sie nie für möglich gehalten, sie kenne mich doch und sie habe auch meinen Vater gut gekannt, sie hat nur bis heute nicht gewußt, daß mein Vater nach Amerika gegangen ist. Frau Breitner beschwert sich, denn sie hat mich für eine ›Heilige‹ gehalten, sie wiederholt mehrmals ›eine Art Heilige‹, und damit ich nicht gekündigt werde, versuche ich, ihr zu erklären, daß es doch verständlich und natürlich sei, nach dem großen Unglück mit meinem Vater, ich könne nicht anders. Ich sehe das Mädchen genaueran, es ist mir nie begegnet, sie ist sehr zart und sehr jung und sie erzählt mir von einer Seepromenade am Wörthersee, ich bin überwältigt, weil sie vom Wörthersee spricht, aber ich traue mich nicht, du zu ihr zu sagen, weil sie sonst dahinterkäme, wer ich bin. Sie soll es nie erfahren. Eine Musik beginnt, mild und leise, und abwechselnd versuchen wir, einige Worte zu dieser Musik zu singen, auch die Baronin versucht es, sie ist meine Hausmeisterin, die Breitner, wir irren uns immer wieder, ich singe ›All meinen Unmut geb’ ich preis‹, das Mädchen singt ›Seht ihr’s Freunde, seht ihr’s nicht?‹. Frau Breitner singt aber ›Habet acht! habet acht! Bald entweicht die Nacht!‹.
Auf dem Weg zu meinem Vater treffe ich eine Gruppe von Studenten, die auch zu ihm wollen, den Weg kann ich ihnen zeigen, aber ich möchte nicht gleichzeitig mit ihnen vor der Tür ankommen. Ich warte, an die Wand gedrückt, während die Studenten läuten. Melanie öffnet, sie ist in einem langen Hauskleid, ihr Busen ist schon wieder zu groß und für alle zu sehen, sie begrüßt überschwenglich die Studenten und gibt vor, sich an alle zu erinnern, sie habe sie in allen Vorlesungen gesehen, und sagt strahlend, heute sei sie noch Fräulein Melanie, aber nicht mehr lange, denn sie will Frau Melanie sein.Nie, denke ich. Dann erblickt sie mich, ich habe ihr den Auftritt verdorben, wir begrüßen einander oberflächlich, geben einander die Hand, aber nur so, daß die Hände sich flach berühren und keine der
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