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Malina

Malina

Titel: Malina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingeborg Bachmann
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ich es zugeschlagen habe, suche planlos im Inhaltsverzeichnis, im Anhang, Erläuterung der Fach- und Fremdwörter, die Kräfte und Vorgänge unterirdischen Ursprungs, Innere Dynamik. Malina nimmt mir das Buch aus der Hand und legt es weg.

    Malina: Warum kommt deine Schwester vor, wer ist deine Schwester?
    Ich: Eleonore? Ich weiß nicht, ich habe keine Schwester, die Eleonore heißt. Aber wir haben doch alle eine Schwester, nicht wahr? Verzeih. Wie konnte ich nur! Aber du willst ja etwas von meiner wirklichen Schwester wissen. In der Kinderzeit waren wir natürlich immer beisammen, dann noch eine Weile in Wien, am Sonntagvormittag gingen wir zu den Konzerten im Musikverein, manchmal verabredeten wir uns mit denselben Männern, lesen konnte sie auch, einmal schrieb sie drei traurige Seiten, die gar nicht zu ihr paßten, wie eben vieles nicht zu uns paßt, und ich habe das nicht ernst genommen. Ich habe etwas versäumt. Was wird meine Schwester getan haben? Ich hoffe, sie hat sich bald danach verheiratet.
    Malina: Du sollst nicht so von deiner Schwester sprechen, es strengt dich nur an, sie zu verbergen. Und Eleonore?
    Ich: Ich hätte es ernst nehmen müssen, aber ich war noch so jung damals.
    Malina: Eleonore?
    Ich: Sie ist viel älter als meine Schwester, sie muß in einer anderen Zeit gelebt haben, in einem anderen Jahrhundert sogar, Bilder kenne ich von ihr, aber ich erinnere mich nicht, erinnere mich nicht ... Gelesen hat sie auch, einmal hat mir geträumt, sie liest mir vor, mit einer Geisterstimme. Vivere ardendo e non sentire il male. Wo steht das?
    Malina: Was ist aus ihr geworden?
    Ich: Sie ist in der Fremde gestorben.
    Mein Vater hält meine Schwester gefangen, er läßt nichts durchblicken, er verlangt von mir meinen Ring für sie, denn meine Schwester soll diesen Ring tragen, er zieht mir den Ring vom Finger und sagt: Das genügt wohl, das reicht wohl! ihr seid ja eine wie die andere, ihr werdet beide noch etwas erleben. Melanie hat er ›abgesetzt‹, manchmal sagt er, sie sei›entlassen‹, er habe sie durchschaut, ihren Ehrgeiz und ihre Sucht, durch ihn glänzen zu wollen. Die Tiraden, in denen er mir ihre Sucht begreiflich machen will, sind aber eigenartig, das Wort ›Schnee‹ kommt vor, sie wolle mit ihm durch meinen Schnee fahren, auch durch unseren gemeinsamen Schnee aus den Voralpen, und ich frage ihn, ob er meine Briefe schon bekommen habe, aber es stellt sich heraus, daß sie im Schnee steckengeblieben sind. Noch einmal bitte ich ihn um die wenigen Dinge, die ich bis zuletzt brauchen werde, um die zwei Kaffeeschalen von Augarten, weil ich noch einmal Kaffee trinken will, sonst könne ich meine Pflicht nicht tun, die Kaffeeschalen sind nämlich weg, das ist das Bitterste, ich werde meiner Schwester sagen müssen, daß sie mir wenigstens diese Schalen zurückgeben soll. Mein Vater hat eine kleine Lawine ins Rollen gebracht, damit ich erschrecke und diesen Wunsch nicht mehr äußere, die Schalen sind unter dem Schnee. Nur täuschen wollte er mich, er löst eine zweite Lawine aus, ich verstehe langsam den Schnee, denn es soll mich der Schnee begraben, es soll mich keiner mehr finden. Auf die Bäume zulaufend, wo Rettung und Halt ist, versuche ich feige zu schreien, ich wolle nichts mehr, er soll es vergessen, ich will überhaupt nichts mehr, es ist Lawinengefahr, man muß rudern mit den Armen, man muß schwimmen im Schnee, um oben zu bleiben, manmuß treiben über dem Schnee. Aber mein Vater tritt auf ein Schneebrett und löst eine dritte Lawine aus, sie reißt unsere ganzen Wälder nieder, die ältesten Bäume, die stärksten, die fällt nun ihre unheimliche Kraft, ich kann meine Pflicht nicht mehr tun, ich bin einverstanden, daß der Kampf ein Ende hat, mein Vater sagt zu der Suchmannschaft, sie bekämen ein Freibier, sie dürften nach Hause gehen, vor dem nächsten Frühjahr sei nichts zu machen. Ich bin unter die Lawine meines Vaters gekommen.
    Auf dem leicht verschneiten Hang hinter unserem Haus fahre ich zum erstenmal Ski. Ich muß versuchen, die Schwünge so zu machen, daß ich nicht auf die aperen Stellen komme und, hinuntergleitend, auf einem in den Schnee geschriebenen Satz bleibe. Der Satz könnte aus der früheren Zeit sein, weithin geschrieben mit einer ungeschickten Kinderhandschrift, in dem liegengebliebenen Schnee aus meiner Jugend. Es kommt mir eine Ahnung, daß er aus dem braunen Schulheft ist, auf dessen erste Seite ich in der Neujahrsnacht geschrieben habe: Wer ein Warum zu

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