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Malina

Malina

Titel: Malina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingeborg Bachmann
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ich mich dem Krokodil, ich ziehe ihm mein gestohlenes Hemd aus Sibirien und meine Briefe nach Ungarn weg, ziehe ihm, was mir gehört, aus seinem schläfrigen, gefährlichen Rachen, auch den Schlüssel möchte ich wiederhaben, und ich will schon lachen, ihn von dem Krokodilszahn nehmen und weitertanzen, aber mein Vater nimmt mir den Schlüssel. Er nimmt mir, zu allem anderen, auch noch den Schlüssel, es ist der einzige Schlüssel! Mir bleibt die Stimme weg, ich kann nicht mehr rufen: Ivan, so hilf mir doch, er will mich töten! An dem größten Zahn von dem Krokodil hängt noch ein Brief von mir, kein sibirischer Brief, kein ungarischer Brief, ich sehe mit Entsetzen, an wen dieser Brief gerichtet ist, denn ich kann den Anfang lesen: Mein geliebter Vater, du hast mir das Herz gebrochen. Krakkrak gebrochen damdidam meines gebrochen mein Vater krak krak rrrrak dadidam Ivan, ich will Ivan, ich meine Ivan, ich liebe Ivan, mein geliebter Vater. Mein Vater sagt: Schafft dieses Weib fort!
    Mein Kind, das jetzt etwa vier oder fünf Jahre alt ist, kommt zu mir, ich erkenne es sofort, weil es mir ähnlich sieht. Wir sehen in einen Spiegel und vergewissern uns. Der Kleine sagt leise zu mir, mein Vater werde heiraten, diese Masseuse, die so schön, aber aufdringlich sei. Er möchte deswegen nicht mehr bei meinem Vater bleiben. Wir sind in einer großen Wohnung bei Fremden, in einem Zimmer höre ich meinen Vater mit einigen Leuten sprechen, es ist eine gute Gelegenheit, und ich beschließe, ganz plötzlich, das Kind zu mir zu nehmen, obwohl es bei mir sicher auch nicht gerne bleibt, da mein Leben so ungeordnet ist, da ich noch keine Wohnung habe, weil ich erst den Obdachlosenverein verlassen muß, den Rettungsdienst und die Suchmannschaft bezahlen muß, und ich habe kein Geld, aber ich halte das Kind fest an mich gedrückt und verspreche ihm, alles zu tun. Der Kleine scheint einverstanden, wir versichern einander, daß wir beisammenbleiben müssen, ich weiß, daß ich von nun an um das Kind kämpfen werde, da mein Vater kein Recht auf unser Kind hat, ich verstehe mich selber nicht mehr, denn er hat ja kein Recht, ich nehme jetzt das Kind an der Hand und will sofort zu ihm gehen, aber dazwischen sind andere Zimmer. Mein Kind hat noch keinen Namen, ich fühle, daß es namenlos ist wie die Ungeborenen, ich muß ihm bald einen Namen geben und meinen Namen dazu, ich schlage ihmflüsternd vor: Animus. Das Kind möchte keinen Namen, aber es versteht. In jedem Zimmer spielen sich die übelsten Szenen ab, ich halte meinem Kind eine Hand vor die Augen, denn ich habe im Klavierzimmer meinen Vater entdeckt, er liegt unter dem Klavier mit einer jungen Frau, sie könnte diese Masseuse sein, mein Vater hat ihr die Bluse aufgeknöpft und zieht ihr den Büstenhalter aus, und ich fürchte, daß das Kind trotzdem die Szene gesehen hat. Wir drängen uns durch die Gäste, die alle Champagner trinken, in das nächste Zimmer, mein Vater muß vollkommen betrunken sein, wie könnte er sonst das Kind so vergessen. In dem anderen Zimmer, in dem wir Schutz suchen, liegt eine Frau, auch auf dem Boden, die mit einem Revolver alle bedroht, ich errate, daß es ein gefährliches Fest ist, ein Revolverfest, ich versuche auf die skurrilen Einfälle der Frau einzugehen, sie zielt auf den Plafond, dann durch die Tür auf meinen Vater, ich weiß nicht, ob sie es im Ernst oder im Spaß tut, sie könnte diese Masseuse sein, denn plötzlich fragt sie gemein, was ich hier zu suchen habe und wer dieser kleine Bastard sei, und ich frage, während sie den Revolver auf mich richtet, ob es nicht umgekehrt sei, ob nicht sie es sei, die nichts hier zu suchen habe, sie aber fragt schrill zurück: Wer ist dieser Bastard, der mir im Weg ist? In meiner Todesangst weiß ich nicht, ob ich das Kind an mich reißen solloder ob ich es wegschicken soll, ich will rufen: Lauf, lauf! lauf weg von hier! Denn die Frau spielt nicht mehr mit dem Revolver, sie will uns beide aus dem Weg haben, es ist der 26. Jänner, und ich reiße das Kind an mich, damit wir miteinander sterben, die Frau überlegt einen Augenblick, dann zielt sie genau und erschießt das Kind. Sie muß mich nicht mehr treffen. Mein Vater hat ihr nur einen Schuß freigegeben. Während ich über das Kind falle, läuten die Neujahrsglocken, und alle stoßen mit den Champagnergläsern an, sie verschütten auch viele Gläser, der Champagner rinnt über mich, seit der Neujahrsnacht, und ich habe mein Kind nicht im Beisein meines

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