Malka Mai
hatte Wlado sie getragen. Bei dem Gedanken an ihn wurde ihr warm. Damals, wie lange war das eigentlich her, war sie nicht allein gewesen. Mama, dachte sie, Minna. Sie meinte die gesenkten Köpfe ihrer Mutter und ihrer Schwester zu sehen. Die Richtung ist falsch, sagte ihre Mutter. Malka, pass auf, die Richtung ist falsch.
Sie schloss die Augen und ließ sich tragen. In die falsche Richtung.
Dann musste sie wieder allein gehen. Die Straße führte in Windungen einen Berg hinauf. Plötzlich sahen sie, als sie um eine Kurve gebogen waren, ein Wachhäuschen, das am Hang klebte, daneben ein großes, schwarzes Loch im Berg. Aus dem Loch heraus führten verrostete Eisenbahnschienen den flachen Hang hinunter bis zu einer Brücke. »Das ist die Grenze«, flüsterte Schlomo. »Auf der anderen Seite ist Lawoczne. Sie werden uns durch den Tunnel bringen.«
Die beiden Gendarmen führten ihre drei Gefangenen zu dem Häuschen, redeten mit den Soldaten, nahmen Schlomo die Handschellen ab und machten sich auf den Rückweg. Der Hüne drehte sich noch einmal um und winkte Malka zu, sie winkte zurück. Ein ungarischer Soldat deutete auf die Bank vor dem Häuschen, da sollten sie sich hinsetzen. Schlomo rieb sich die Hände, spreizte die Finger, ballte sie zu Fäusten, spreizte sie wieder. Der Soldat brachte jedem ein Schmalzbrot. Das Brot war braun, mit fast schwarzer Rinde, und schmeckte sehr gut. Ein anderer Soldat verschwand in dem dunklen Loch.
Malka hatte ihr Brot längst aufgegessen. Sie betrachtete die Schienen und versuchte, mit den Augen den beiden rostbraunen Streifen auf den blaugrauen Schottersteinen bis ins Tal hinunter zu folgen, als plötzlich aus dem Berg Stimmen zu hören waren. Schlomo stieß sie an und machte eine Kopfbewegung zum Tunnel hin. Erst sah man nur das Licht einer Taschenlampe, dann tauchte der Ungar aus dem Loch auf, gefolgt von zwei deutschen Soldaten vom Grenzschutz.
Malka, Schlomo und Jossel saßen auf der Bank und rührten sich nicht. Sie schauten zu, wie die Soldaten, ungarische und deutsche, miteinander redeten, wie sie lachten, sich gegenseitig Zigaretten anboten und in aller Ruhe rauchten. Ein Ungar zog eine kleine Flasche aus der Tasche und ließ sie herumgehen. Ein Mann nach dem anderen nahm einen Schluck, wischte sich mit der Hand über den Mund und gab die Flasche weiter.
Schlomo stieß einen leisen Fluch aus. »Diese Hurensöhne lassen sich Zeit«, sagte er.
Wenn es nach Malka gegangen wäre, hätten sie sich alle Zeit der Welt nehmen können, sie fürchtete sich davor, den Gang zu betreten, der in das Berginnere führte, sie hätte nichts dagegen gehabt, bis in alle Ewigkeit hier zu sitzen. Aber irgendwann war es doch so weit.
Je tiefer sie in den Tunnel vordrangen, umso dunkler wurde es, nur die Lichter der beiden Taschenlampen tanzten hin und her über den Boden. Sie gingen hintereinander auf einem schmalen Gehweg neben den Eisenbahngleisen, die seit Jahren nicht mehr benutzt worden waren, denn die Russen hatten, bevor sie abzogen, die Gleise und den Bahnhof zerstört. Immer wieder lagen ihnen Schottersteine im Weg, an denen sich Malka die Zehen aufstieß. Die zerrissenen Fußlappen schützten ihre Füße kaum mehr. Einmal stolperte sie über einen Holzbalken, den sie nicht gesehen hatte, fiel hin und schlug sich Knie und Hände auf. Sie weinte. Der Deutsche, der vorausging, sagte etwas mit einer harten, bösen Stimme und Schlomo nahm Malka an der Hand und zog sie weiter.
Irgendwann tauchte ein dunkelgrauer Fleck in der Schwärze auf, wurde heller und heller, bis der Tunnelausgang vor ihnen lag. Schlomo ließ Malkas Hand los und schob sie von sich. Auch hier war der Himmel grau und verhangen, doch nach der Dunkelheit im Tunnel kam Malka das Licht überhell vor, sie musste blinzeln und schirmte ihre Augen mit der Hand ab.
Sie saßen nebeneinander auf einer Holzbank, in einem Zimmer mit einem kleinen Fenster. Zwei polnische Gendarmen kamen herein, zusammen mit einem Soldaten vom deutschen Grenzschutz.
Der Deutsche setzte sich hinter den Schreibtisch, legte ein Papier vor sich und nahm einen Stift in die Hand, die beiden polnischen Gendarmen standen vor den Kindern. »Also los«, sagte der Deutsche gelangweilt. »Fangen wir mit dem Mädchen an. Wie heißt du?«
Als Malka nicht gleich antwortete, wiederholte einer der beiden Gendarmen die Frage auf Polnisch.
»Malka Mai.«
»Bist du Jüdin?«
»Ja.«
»Und wer sind deine Eltern?«
»Meine Mutter ist Frau Doktor Mai.«
»Und wo
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