Malka Mai
Liesel aus der Tasche, drückte sie an sich und machte die Augen zu. Da hörte sie noch, wie Schlomo sagte: »Ich werde es mir überlegen. Es ist sehr gefährlich, was wir vorhaben.«
Als Malka am nächsten Morgen aufwachte, waren Schlomo und Jossel verschwunden. Sie hatten sie nicht mitgenommen. Sie war allein. Wieder einmal allein.
Hanna hatte Blasen an den Fersen bekommen, ihre Zehen waren aufgescheuert. Sie ärgerte sich, dass sie weder Jod noch eine Pinzette und Verbandszeug dabeihatte, um ihre Blasen zu öffnen und zu reinigen. Sie taten ihr verdammt weh, aber sie wagte nicht zu klagen, den anderen ging es auch nicht viel besser, sie waren alle erschöpft, dreckig und heruntergekommen. Frau Wajs hatte ebenfalls Blasen an den Füßen, Hanna konnte es sehen, als sie gegen Morgen, nach einem Nachtmarsch, nebeneinander an einem Bach saßen. Sie hatten ihre Schuhe und Strümpfe ausgezogen und kühlten ihre Füße im Wasser. Es war eine helle Nacht, so hell, dass man die Morgendämmerung kaum wahrnahm.
»Diese verdammten Deutschen«, sagte Frau Wajs. »Ausgelöscht sollen sie sein, ausgelöscht ihr Andenken, ausgelöscht ihre Nachkommenschaft.«
Hanna nickte nur.
»Sie sind doch immer so gut mit ihnen zurechtgekommen«, sagte Frau Wajs. »Jeder hat doch gewusst, dass die deutschen Offiziere bei Ihnen ein-und ausgehen.«
»Ich habe sie behandelt, ich bin Ärztin«, sagte Hanna abweisend. Sie hatte den Vorwurf in der Stimme der anderen gehört, Vorwurf und Verurteilung. Seltsamerweise war ihr damals gar nicht eingefallen, dass die Leute über sie reden könnten. Es wäre ihr auch egal gewesen, auf solche Dinge hatte sie nie besonders geachtet. Sie war nicht eine von diesen Frauen, die ihr Glück nur in ihrer Funktion als Gemahlin und Mutter sahen, als geachtete Hausfrau, für sie galten andere Gesetze, sie hatte sich von all dem befreit, sie hatte auf die anderen immer ein bisschen herabgeschaut.
»Ja, ja, natürlich, Sie sind Ärztin«, sagte Frau Wajs. »Das ist mir klar, aber trotzdem …«
Trotzdem, dachte Hanna, als sie später auf einem Strohsack in einer Hütte lag und den Atemzügen ihrer Mitflüchtlinge lauschte, trotzdem, auch wenn ich es nie gewollt habe, jetzt gehöre ich dazu. Das Schicksal hat mich eingeholt. Habe ich wirklich je geglaubt, so zu sein wie die Nichtjuden, nur weil ich Ärztin geworden bin?
Und habe ich wirklich geglaubt, dass die Deutschen sich mir gegenüber anders verhalten würden, nur weil ich sie behandelt habe, wenn sie krank waren, und weil ich eine gebildete Frau bin und die Klassiker auf Deutsch gelesen habe? Das Bild ihres Vaters tauchte vor ihr auf, nicht der Mann mit dem nackten Gesicht, auch nicht der andere, würdige, mit Bart und Pejes und dem runden Hut auf dem Kopf, sondern der Vater von früher, von damals, wütend und mit rotem Gesicht. »Du wirst machen, was ich dir sage«, hatte er sie angeschrien. »Du bist meine Tochter, du hast mir zu gehorchen.« Und dann hatte er die Hand gehoben.
Sie sah sich selbst dort stehen, sechzehn musste sie gewesen sein, so alt wie Minna heute, starr, mit weißem Gesicht und mit vor Zorn dunklen Augen, und sie hörte sich sagen: »Wenn ich nicht studieren darf, bringe ich mich um. Und du wirst schuld sein an meinem Tod, denn du hast mich dazu gezwungen.« Ihr Vater hatte die Hand sinken lassen. Hilflos hatte der Arm an seinem Körper heruntergehangen. »Was willst du?«, hatte er schließlich gefragt, mit einer Stimme, der seine Niederlage anzuhören war. Seine Niederlage und ihr Triumph. »Ich will Ärztin werden«, hatte sie gesagt.
Ach, Vater, dachte Hanna jetzt, so habe ich es mir nicht vorgestellt. Ich habe so viel gewollt und so viel erreicht, nur um an einem Punkt anzukommen, an dem ich doch wieder in erster Linie und hauptsächlich Jüdin bin. Und die Mutter jüdischer Töchter.
Die Aufregung war groß . Malka wurde wieder und wieder gefragt, wie den beiden Jungen die Flucht gelungen war. »Ich weiß es nicht«, antwortete sie hilflos, »ich habe geschlafen.« Auch diesmal wurde sie geschlagen, vom selben Mann wie am Tag zuvor. Sie weinte und der andere sagte: »Hör schon auf, wenn sie geschlafen hat, kann sie es doch nicht wissen. Und außerdem ist es schon passiert, die beiden sind über alle Berge.«
Da hörten sie auf, sie zu fragen. Den ganzen Tag lang saß Malka mal in dem einen Zimmer, mal in dem anderen, ohne dass jemand mit ihr redete und ohne dass sie wusste, was die Deutschen mit ihr vorhatten. Durch ein
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