Malka Mai
und Jossel aus dem Gefängnis. Drei Tage hatte sie im Keller verbracht, neben der Polin mit den weißen Haaren. Außer ihr und Schlomo und Jossel waren es zwei Frauen und vier Männer. Sie hatte sie alle betrachtet und sich bei jedem Einzelnen überlegt, warum er wohl hier war, aber sie hatte keine Fragen gestellt. Gleich am ersten Morgen war sie aufgestanden und zu Schlomo und Jossel gegangen, weil sie bei ihnen sitzen wollte, aber Schlomo hatte sie angefahren, sie solle gefälligst abhauen. Erschrocken und gekränkt war sie zu der Polin zurückgegangen.
Die Frau hieß Saskia und stammte aus Krakau. Als sie eines Tages von ihrer Arbeit nach Hause gekommen war, erzählte sie, seien ihre Mutter und ihre drei Kinder nicht mehr da gewesen. »Das ist noch gar nicht so lange her«, sagte sie, »und von einem Tag auf den anderen sind meine Haare weiß geworden. Ich bin noch nicht so alt, wie du denkst.«
Und als Malka fragte, wo ihre Mutter und ihre drei Kinder wären, sagte sie dieses Wort, das Malka nicht mehr hören wollte: »Es war eine Aktion.« Die Frau verzog das Gesicht, spuckte neben sich auf den Boden. »Die Deutschen haben sie fortgebracht. Umgesiedelt, wie sie es nennen. Aber ich glaube ihnen kein Wort. Wenn du mich fragst, wollen sie uns alle umbringen.«
Malka hatte sich zur Seite gedreht, sie hatte Liesel aus der Tasche geholt und sie aus-und angezogen, immer wieder, die grüne Hose, das weiße Unterhemd, die Ringelsocken. Aus, an. Aus, an. Die Frau hatte sie nur noch selten angeschaut.
Zweimal am Tag gab es etwas zu essen, einen Eintopf aus Kartoffeln und Gemüse, und dazu einen Becher mit einem heißen Getränk, das bitter und nicht besonders gut schmeckte. Ein Gendarm öffnete die Handschellen der Gefangenen, bevor er ihnen das Essen austeilte, ein anderer bewachte sie mit dem Gewehr im Anschlag. Malka litt in diesen Tagen weit mehr unter Durst als unter Hunger, und wenn ihr der Becher hingehalten wurde, trank sie ihn sofort gierig leer. Manchmal hatte sie Glück und der Gendarm goss ihr den Becher noch einmal voll.
Einmal am Tag wurden sie zu zweit oder zu dritt hinausgeführt auf den Hof hinter der Gendarmerie, dort durften sie spazieren gehen, einer hinter dem anderen, immer im Kreis. Der Himmel war grau und verhangen, die Luft feucht, trotzdem freute sich Malka, wenn sie den Keller mit dem ewigen Gestank verlassen konnte. Sie genoss die Bewegung, spürte, wie das Blut durch ihre Beine lief. Die Krusten an den Wunden fielen ab, die neue Haut darunter war weiß und empfindlich. Stunden verbrachte sie damit, die letzten Grindreste abzukratzen und mit dem Finger die hellen Linien entlangzufahren, erst am einen Bein, dann am anderen. Auf ihrer noch vom Sommer gebräunten Haut sahen sie aus wie Schriftzeichen, die sie nicht entziffern konnte.
Als ein Gendarm morgens kam und sie, Schlomo und Jossel hinauswinkte, stand sie erleichtert auf und schob Liesel tiefer in ihre Jackentasche. Etwas würde passieren. Irgendetwas. Alles war besser als das hier.
»Geh mit Gott, Kind«, sagte die weißhaarige Polin. »Der Ewige möge dich beschützen.« Sie weinte.
Es waren zwei Gendarmen, die sie zur polnischen Grenze brachten, weil sie ohnehin dort in der Nähe etwas zu erledigen hätten, wie einer in gebrochenem Polnisch sagte. Schlomo hatte noch immer Handschellen an. Die beiden Männer unterhielten sich ab und zu auf Ungarisch und einmal flüsterte Jossel Malka zu: »Igen-migen fängt sich Fliegen.« Und Schlomo fuhr ihn an: »Halt’s Maul!«
Um die Mittagszeit machten sie Rast. Einer der Gendarmen holte Brot und eine Thermoskanne mit Tee aus seinem Rucksack und sie aßen. Der Tee reichte kaum, beim nächsten Bach kniete sich Malka ans Ufer und trank wie ein Hund aus seiner Schüssel. Die Gendarmen lachten gutmütig und warteten, bis sie sich satt getrunken hatte.
Obwohl sie auf der Straße gingen, so wie normale Menschen, nicht wie Flüchtlinge, die sich verstecken müssen, war der Weg beschwerlich. Manchmal stieg die Straße steil an, dann schlängelte sie sich wieder einen Hang hinunter. Malka spürte ihre Beine kaum mehr, ihre Füße taten weh, die Lappen waren durchgelaufen, sie fühlte jeden Stein, jeden Dorn.
Der Gendarm, der hinter ihnen ging, ein Hüne von einem Mann, griff sie plötzlich um die Taille und hob sie auf seine Schultern. Erschrocken klammerte sie sich an seinen Haaren fest. Sie hatte Angst, so hoch dort oben, aber sie war auch froh, dass sie eine Weile nicht mehr gehen musste. So
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