Malka Mai
Fenster konnte sie einen Baum sehen, eine Buche mit dunkelrotbraunen Blättern. Ein Baum von Lawoczne, dachte sie, und als ein Eichhörnchen über einen Ast lief, zog sie Liesel aus der Tasche, um ihr das Eichhörnchen von Lawoczne zu zeigen.
Irgendwann betrat ein polnischer Gendarm das Zimmer, einer, den sie bisher noch nicht gesehen hatte, und sprach leise ein paar Worte mit dem Deutschen, der auf sie aufpasste. Dann kam er zu ihr und flüsterte: »Hab keine Angst, ich bringe dich hier heraus, ich kenne deine Mutter.«
Tatsächlich erschien der Mann eine Weile später wieder. Der Deutsche nahm ein paar Akten und verließ das Zimmer. Der Mann zog ein schwarzes Kopftuch aus der Tasche und band es Malka um. »Du musst deine Haare verstecken«, sagte er. »Du bist so blond, dich erkennt jeder gleich an den Haaren.« Er führte sie durch den Hinterausgang hinaus zum Zaun, an dem ein Fahrrad lehnte. Es hatte Holzräder statt Gummireifen, die Holzreifen waren mit Eisenbändern beschlagen, wie die Heuwagen der Bauern. Der Mann half Malka auf den Gepäckträger und sagte: »Halte dich gut fest und pass auf, dass du nicht mit den Füßen in die Speichen gerätst.«
Sie fuhren auf Seitenstraßen durch Lawoczne. Malka saß hinten auf dem Rad, wurde geschüttelt und gerüttelt und sah die Häuser, die ihr so vertraut waren, die Straßen und Gassen, die sie alle kannte, und wäre am liebsten abgesprungen und nach Hause gelaufen, in ihr eigenes Zimmer. Sie würde sich ins Bett legen und schlafen und am nächsten Morgen ihrer Mutter und Minna von dem schrecklichen Traum erzählen, den sie geträumt hatte, und ihre Mutter würde lachen, ihr durch die Haare fahren und sagen, das wirst du wohl von mir haben, Malkale, ich habe auch immer so viel geträumt, und Minna würde irgendetwas von Träumen und Schäumen sagen.
Sie fuhren lange. Malka tat schon der Po weh von dem Gerüttel auf dem harten Gepäckträger. Sie rutschte hin und her, bis der Mann sagte, sie solle still sitzen, sonst würden sie noch stürzen. Sie klammerte sich fester an ihn. Die letzten Häuser von Lawoczne waren verschwunden, als sie von der asphaltierten Landstraße, die nach Skole führte, nach links auf einen Feldweg abbogen, in die Berge. Manchmal, wenn der Weg zu steil war, musste Malka absteigen, dann schob der Mann das Fahrrad und sie lief nebenher. Endlich erreichten sie ein abgelegenes Haus, eher eine Hütte, die am Waldrand lag.
Die Küche war groß, viel größer, als man von außen annehmen konnte, und durch eine offene Tür war ein Zimmer mit Betten zu sehen. Unter dem Fenster, durch das die Abendsonne fiel, saßen zwei Jungen an einem Tisch und aßen Brei. Der eine war nicht viel jünger als Malka, der andere war höchstens so alt wie Tanjas kleiner Bruder. Ein dritter Junge, von der Größe her der mittlere, saß neben dem Tisch auf dem Boden, ein paar Holzbausteine vor sich. Er starrte Malka an, die an der Tür stehen geblieben war, und ein Spuckefaden lief ihm aus dem Mund auf den Pullover.
Der Mann wechselte leise ein paar Worte mit seiner Frau. Die Frau hieß Teresa. Sie lachte freundlich, als sie Malka ebenfalls einen Teller mit Haferbrei vorsetzte. Marek, der große Junge, aß weiter, Julek, der kleinste, konnte die Augen nicht von Malka wenden. Offenbar sah er nur selten fremde Menschen. Auch Zygmunt, der Mann, der Malka vom Grenzschutz hierher gebracht hatte, fing jetzt an zu essen. Teresa hob den Jungen vom Boden auf, setzte sich mit ihm an den Tisch und fütterte ihn. Der Junge aß gierig.
»Deine Mutter hat Antek das Leben gerettet«, sagte Teresa und schob dem Jungen einen Löffel Brei in den Mund. »Im Frühjahr war er sehr krank, wir hatten Angst, er würde ersticken. Deine Mutter ist jeden Tag gekommen, anfangs zweimal am Tag, und hat ihm den Schleim abgesaugt. Das werden wir ihr nie vergessen.«
Malka senkte den Kopf über ihren Teller. Sie war verlegen, ihr wurde warm und gleichzeitig wollte sie das nicht hören. Sie wollte nicht an ihre Mutter denken, die mit Minna in Ungarn war und sie allein in der Mühle zurückgelassen hatte.
»Antek ist ein bisschen anders«, sagte Teresa. »Aber er ist ein sehr lieber Junge, er ist etwas Besonderes. Stimmt doch, Antek, oder?« Sie beugte sich vor und küsste ihn auf die Wange. Antek strahlte sie an, er strahlte auch Malka an, er strahlte jeden an. Seine Augen wurden zu schmalen Strichen, wenn er lachte. Malka aß wortlos ihren Teller leer und nickte erleichtert, als Marek sie fragte,
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