Malka Mai
die Gesichter nach oben, zum Gipfel, keiner schaute hinunter in die Schlucht, deren Grund im Dunkeln lag. Lautes Rauschen war zu hören, irgendwo in ihrer Nähe musste ein Wasserfall sein. »Sie da, Frau«, sagte der Bauer und deutete auf Hanna. »Kommen Sie!«
Sie richtete sich auf, ging an ihren Weggefährten vorbei. Der Bauer lächelte sie an und nahm ihre Hand. Wie ein kleines Kind führte er sie weiter, trennte sie mit seinem Körper von dem Abgrund. Vor ihnen lagen Bergketten, schwarze Blöcke vor dem nächtlichen Himmel. Von Zeit zu Zeit blickte Hanna sich um und versuchte in dem Häufchen Menschen, das ihnen folgte, Minna zu entdecken.
Endlich saßen sie oben auf dem Berg, auf einer flachen Kuppe, keuchten, schnauften und versuchten, sich wieder zu fassen. Frau Wajs weinte laut, ihr Mann legte tröstend den Arm um sie. Frau Frischman und Frau Kohen kauerten dicht nebeneinander, Frau Frischman streichelte die Haare ihrer Schwester.
Mendel Frischman räusperte sich, dann sagte er: »Und jetzt sollten wir alle unsere Ausweise zerreißen und was wir sonst an Dokumenten dabeihaben, die beweisen, dass wir Juden sind, zum Beispiel auch Fotos und Ähnliches. Es wird Zeit, dass wir zu christlichen Polen werden, die aus ihrer besetzten Heimat geflohen sind.«
Einer nach dem anderen zog Papiere hervor, Bilder, Briefe, und fing an, sie zu zerreißen. Die Papierfetzchen leuchteten blass in der beginnenden Morgendämmerung und bald war die Wiese mit weißen Flecken wie mit Anemonen übersät. Hanna sah den Gesichtern der Leute an, dass ihnen die Trennung von diesen Dingen noch schwerer fiel als von dem kostbaren Ballast, den sie am Fuß des Berges zurückgelassen hatten.
Sie nahm die Geburtsurkunden ihrer Kinder heraus, ihren Pass, den Brief ihres Vaters mit den Fotos. »Hier, schau dir deinen Großvater noch einmal an«, sagte sie zu Minna, bevor sie die Bilder zerriss, erst das des fremden Mannes mit dem nackten Gesicht, dann das ihres Vaters, mit Bart und Pejes. Dabei fiel ihr auf, wie rau und rissig ihre Hände waren, mit abgebrochenen, schmutzigen Fingernägeln.
Unschlüssig betrachtete sie ihre Approbationsurkunde und schob sie nach kurzem Nachdenken zurück in die Tasche, in der nun nur noch das bisschen Geld war, das sie von Sawkowicz bekommen hatte. Von ihrer Approbationsurkunde konnte sie sich nicht trennen, egal, was passieren würde, ihre Arbeit war ihr Leben, sie hatte so schwer gekämpft, um Ärztin zu werden, hatte so viel aufgegeben, um dieses Ziel zu erreichen, dieses Stück Papier war ihr wichtiger als jeder Besitz. Mehr als alles andere machte es ihre Identität aus, war ein Beweis dafür, dass sie das Recht hatte, ihr Leben so zu leben, wie sie es wollte, dass sie kein Niemand war, sondern eine angesehene Persönlichkeit. Dieses Stück Papier verband sie mit ihrem alten Leben und es war zugleich ihre einzige Hoffnung auf ein neues, egal, wo es auch sein würde.
Ruben hielt Frau Wajs ein Foto hin. »Meine Mutter«, sagte er. »Sie sieht doch nicht aus wie eine Jüdin, oder? Meinst du nicht, dass ich das Bild behalten kann?«
»Ja, Ruben, du kannst es ruhig behalten, das Bild verrät gar nichts«, antwortete Frau Wajs, ihre Stimme klang noch immer zittrig vom Weinen und überraschend sanft. Hanna unterdrückte die Bemerkung, dass die Frau auf dem Foto sehr jüdisch aussah, jeder Trottel würde sie als Jüdin erkennen, erst recht jeder antisemitische Pfeilkreuzler. Aber auch Ruben würde jeder als Jude erkennen, deshalb war es egal, was für ein Foto er bei sich trug.
Der Bauer deutete hinunter ins Tal. »Dort im Wald ist eine Jägerhütte, da werden wir den Tag über schlafen. Und am Abend geht es weiter.«
»Noch ein bisschen ausruhen«, bat Frau Frischman. »Noch ein paar Minuten.« Der Bauer nickte.
Minna setzte sich neben Hanna und sagte leise: »Diesen Aufstieg hätte Malka nie geschafft.« Hanna nahm ihre Hand und drückte sie.
Minnas Worte waren als Trost gemeint, das wusste Hanna, aber sie fühlte sich nicht getröstet. Tief in ihr bohrte das Gefühl, dass es ein Fehler gewesen war, das Kind zurückzulassen, auch wenn sie sich die ganze Zeit sagte: Sie liegt jetzt in einem Bett. Sie schläft. Sie hat es warm. Sie ist satt. Es geht ihr gut.
Hanna starrte in die aufgehende Sonne. Eigentlich müsste ich jetzt erhabene Gefühle haben, dachte sie, und erhabene Gedanken denken. Aber dafür war sie zu bedrückt. Und zu kaputt.
Am vierten Tag kamen zwei Gendarmen und holten Malka, Schlomo
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