Malka Mai
erzählt. Der sah, wenigstens auf den ersten Blick, Veronikas Vater ähnlich, aber er war ein Feind. Alle Deutschen waren Feinde, sie hatte es früher nur nicht gewusst. Malka machte ein paar Schritte vorwärts, dann blieb sie stehen, doch die Soldaten schauten nicht zu ihr her. Sie wartete, bis sie die andere Richtung einschlugen und sie nur noch ihre Rücken sah, dann lief sie in die Straße hinein, die zum Ghetto führte.
Das Ghetto war wie ausgestorben. Nur ab und zu huschte mal jemand über die Straße und verschwand in einem Haus. Es war seltsam still, unheimlich still. Wenn Malka stehen blieb und die Augen schloss, hallte in ihren Ohren der Lärm von früher wieder, das Rufen und Schreien, ab und zu ein Lachen, dann erstarben die Geräusche, nur noch die Stiefel der Deutschen knallten auf das Pflaster und ein Schuss dröhnte. Erschrocken riss Malka die Augen auf und da war sie wieder, diese unheimliche Stille. Noch nicht einmal ein Vogel war zu hören, gar nichts.
Auch am Brunnen, wo sich sonst die Frauen mit ihren Eimern gedrängt hatten, war kein Mensch zu sehen, nur etwas weiter entfernt standen zwei Männer vor einer Tür und unterhielten sich. Verstehen konnte Malka nichts, die Stimmen drangen nicht bis zu ihr, aber die Männer bewegten ihre Hände, deuteten mal dahin, mal dorthin, drehten die Köpfe und neigten sie dann wieder einander zu. Der Brunnenschwengel, der sonst ununterbrochen mit lautem Quietschen auf und ab bewegt worden war, hing nach unten. Das steinerne Becken davor war gefüllt.
Malka bückte sich und schaute ins Wasser. Ihr eigenes Gesicht blickte ihr entgegen. Sie schob die Hand über den Brunnenrand und ließ sie ins Wasser sinken. Kreisförmige Wellen zerstörten ihr Gesicht und rissen es in Stücke. Malka erschrak und richtete sich auf. Sie drehte sich um und ließ den Blick über den Platz wandern. Die üblichen Bettler fehlten, die Kinder, die zwischen den Erwachsenen herumliefen, und auch die Bejgelverkäuferin, die sonst immer in der Toreinfahrt des großen Hauses direkt hinter dem Brunnen gesessen hatte. Wem hätte sie ihre Bejgelech auch verkaufen sollen, es war ja niemand da.
Malka rannte zum Haus der Goldfadens und kam atemlos an. Die Haustür stand offen, aber in der Küche war niemand, auch nicht im Schlafzimmer. Sie zögerte, dann streckte sie, immer noch zögernd, die Hand aus. Die Schranktüren knarrten, als sie sie öffnete. An den Haken hingen die Kleider und Mäntel wie an jenem Tag, als Jankel ihr das Versteck gezeigt hatte. Das Bodenbrett lag ordentlich da, wo es hingehörte, nichts Auffälliges war zu sehen.
Sie klopfte an das Brett, wie man an eine Tür klopft, erst zaghaft, dann lauter. Kein Ton war zu hören. »Herr Goldfaden!«, rief sie. Als keine Antwort kam, versuchte sie den Boden anzuheben, aber es gelang ihr nicht, das Brett war zu schwer für sie oder es war irgendwo eingehängt, vielleicht verriegelt. Sie kroch in den Schrank, legte das Ohr an das Holz und hielt die Luft an, um besser zu hören. Nichts, noch nicht mal ein Atemzug.
Sie schnappte nach Luft und erschrak bei dem lauten Geräusch. »Herr Goldfaden!«, schrie sie und trommelte mit den Fäusten auf das Brett. »Frau Goldfaden! Esther! Rachel! Jankel!« Nichts. Dann lief sie hinaus in den Garten, fand im Unkraut hinter der Mauer das Rohr, von dem Jankel gesprochen hatte, und spähte hinein, aber alles war dunkel. Wieder rief sie: »Herr Goldfaden! Frau Goldfaden! Esther! Rachel! Jankel!« Dann legte sie das Ohr an das Rohr. Als sie nichts hörte, kehrte sie ins Schlafzimmer zurück.
Lange stand sie da und starrte in den Schrank, in dem ein paar Mäntel und Kleidungsstücke hingen, nutzlos, übrig geblieben wie sie selbst. Warum sollte sie sich nicht einen Mantel nehmen, es war kälter geworden, die Sommerjacke war nicht mehr warm genug, auch der Pullover reichte nicht. Sie probierte die beiden Mäntel an, sie waren ihr viel zu groß. Sie entschied sich für die Jacke aus einem dunkelgrünen Lodenstoff, die ihr bis zu den Knien reichte. Für sie war das ein guter Mantel, nur die Ärmel musste sie breit umschlagen. Sie öffnete die schmale Tür zum Wäschefach und stopfte sich zwei Paar Socken in die Manteltaschen. Und zwei Schlüpfer aus Wolle, weil sie plötzlich die Stimme der Frau Doktor zu hören glaubte, wie sie einmal zu Zofia gesagt hatte: Es ist wichtig, regelmäßig die Unterwäsche zu wechseln. Dann entdeckte sie etwas, was ihr Herz höher schlagen ließ, eine dunkelblaue
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