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Malka Mai

Malka Mai

Titel: Malka Mai Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirjam Pressler
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Frau die Tränen aus dem Gesicht. »Danke, Frau Doktor, danke.«
    Hanna ließ sich von Frau Wajs zwei Kopftücher herunterwerfen, knotete sie zusammen und bandagierte damit den Arm fest an Frau Frischmans Körper.
    »Ist es jetzt besser?«, fragte sie.
    Frau Frischman versuchte zu lächeln, bekam aber nur eine Grimasse heraus. »Schon nicht mehr ganz so schlimm«, sagte sie. »Danke.«
    »Und jetzt müssen wir Sie noch hinaufbringen«, sagte Hanna. Die Männer schoben und stützten die Frau den Hang hinauf, Hanna kroch auf allen vieren hinterher. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie alle wieder oben standen, Hanna zitterte noch vor Anstrengung. Minna strahlte ihr entgegen, sichtlich stolz, dass ihre Mutter eine so wichtige Rolle gespielt hatte.
    Nach einer sehr langen Pause gingen sie weiter. Frau Frischman hatte noch immer Schmerzen, auch wenn sie jetzt deutlich nachließen, und wurde von ihrem Mann geführt, deshalb kamen sie nur langsam vorwärts. Aber einfach in den Bergen bleiben konnten sie auch nicht. »Ich fürchte, es wird Ihnen noch ein paar Tage lang wehtun«, sagte Hanna. Frau Frischman nickte und sagte, das würde sie schon durchhalten. Hanna lächelte die Frau an. Es war nicht das professionelle Lächeln, das sie früher so schnell parat gehabt hatte. Es war ein Lächeln der Zuneigung für diese Frau, die trotz der Schmerzen, die sie zweifellos hatte, so viel Mut zeigte.
    Malka starrte hinauf an die Flurdecke, die an vielen Stellen abbröckelte, und versuchte, an nichts zu denken, doch es gelang ihr nicht. Außerdem bekam sie langsam Hunger und Durst, der Geruch des Apfels wurde unerträglich. Sie schob ihn in die Jackentasche, in der eigentlich Liesel hätte sein müssen, Liesel, die wahrscheinlich gemütlich in Ciotkas Bett lag, in dem Malka geschlafen hatte. Oder auf dem Tisch in der Küche. Malka konnte sich einfach nicht erinnern, wo sie sie zuletzt gesehen hatte.
    Im Eimer in der Küche war noch Wasser, sie schöpfte sich einen Becher und trank. Aber sosehr sie auch suchte, sie fand nichts zu essen, außer einem bisschen Mehl. Sie kippte das Mehl in eine Schüssel und rührte es mit Wasser zu einem klumpigen Brei, und weil sie keinen Zucker fand, streute sie etwas Salz hinein. Es schmeckte ekelhaft, sie musste würgen und mit dem Würgen kamen auch wieder die Tränen. Sie wollte nicht weinen, sie durfte nicht weinen.
    Sie zog ihren Mantel an, verließ das Haus und lief durch das Ghetto, lief einfach durch die Straßen und Gassen, sie wusste selbst nicht, warum sie das tat, es trieb sie vorwärts, als müsse sie etwas finden.
    Ihre Fußlappen waren schon nass, als es anfing zu dämmern. Die leeren Fenster, in denen keine Lichter brannten, glotzten bedrohlich von den Fassaden der Häuser und machten ihr Angst, sie ging zurück ins Haus der Goldfadens. Sie schloss die Schlafzimmertür auf, klopfte wieder an den Holzboden im Kleiderschrank und lauschte angespannt, doch wieder war nichts zu hören. Sie betrachtete die Betten. Das Haus war leer, niemand konnte sie daran hindern, sich in ein richtiges Bett zu legen. Aber da war dieser Kleiderschrank, der ihr immer unheimlicher wurde. Vielleicht lagen sie ja alle tot unter dem Holzboden, Herr und Frau Goldfaden und Esther, Rachel und Jankel. Vielleicht waren sie in ihrem Versteck zusammengesunken, lautlos wie Stoffpuppen.
    Beim Hinausgehen sah sie, dass ein Schlüssel in der Schlafzimmertür steckte. Sie zog ihn heraus und schloss die Tür von der Küche aus zu. Nun fühlte sie sich sicherer. Sie zerrte ihre Matratze in die Küche. Sie war klein genug, um unter den Tisch zu passen. Es war ein gemütlicher Platz, fast wie in einer Höhle, und sie hatte die Tür im Auge. Es gab wieder einmal keinen Strom im Ghetto. Weil Malka Angst hatte, die Petroleumlampe anzumachen, legte sie sich im Dunkeln auf die Matratze, wickelte sich, wie sie es gewohnt war, fest in ihre Decke. Der Mantel lag, ordentlich zusammengefaltet, neben ihr.
    Sie fühlte sich allein, verlassen, übrig geblieben.
    Früher hatte sie die Leute um sich herum gekannt, von fast jedem Menschen, den sie in Lawoczne getroffen hatte, hätte sie den Namen gewusst und das Haus zeigen können, in dem er wohnte, nicht nur von den Nachbarn und von den Freunden, sogar von Leuten, mit denen sie nichts zu tun gehabt hatte. Seit jenem Tag, als sie plötzlich nach Kalne gehen mussten, weil Frau Doktor Mai, die damals noch ihre Mutter war, das gesagt hatte, hatte sie ständig neue Leute kennen gelernt,

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