Malka Mai
Menschen, die wie aus dem Nichts auftauchten und ins Nichts verschwanden, eine unendlich lange Reihe von Menschen, von manchen wusste sie schon nicht mehr, wie sie aussahen, zum Beispiel der Ukrainer, der sie vom Bauern Sawkowicz zu Frau Kowalska gebracht hatte. An diese erinnerte sie sich allerdings noch sehr gut. Auch an Wlado, der sie auf den Schultern getragen und gesungen hatte. Während die Gesichter der Kopolowicis schon verblassten. Sie dachte an Schlomo und Jossel, die sie nicht mitgenommen hatten, und spürte so etwas wie Zorn. Doch das lag nur daran, dass sie den Gedanken an Teresa hinausschieben wollte. Stattdessen dachte sie an die Goldfadens und war auf einmal sehr traurig, dass sie nicht mehr da waren. Sie hatte sie nicht besonders gern gehabt, aber sie waren die Verbindung zu Zygmunt – und Zygmunt war die Verbindung zu Teresa.
Malka versuchte, an nichts zu denken, einen leeren Kopf zu bekommen, die Bilder auszulöschen. Sie war überzeugt, dass sie das lernen könnte, sie musste sich nur Mühe geben und üben, üben, üben. Aber es gelang ihr nicht. Sogar als sie einschlief, sah sie noch Gesichter, die an ihr vorbeiflogen, als würden sie, wie Blätter im Herbst, vom Wind an ihr vorbeigeweht, ein Gesicht nach dem anderen.
Der Hunger weckte sie auf, als es Morgen wurde. Sie kroch unter dem Tisch hervor, auf dem noch immer der Mehlpapp vom Vorabend stand. Vorsichtig schob sie sich einen Löffel voll in den Mund, doch wieder stieg der Ekel wie ein bitterer Klumpen in ihrer Kehle hoch. Da kippte sie noch etwas Wasser hinzu, goss das nun flüssige, weiße Zeug in eine Tasse, hielt sich die Nase zu und trank es, wie sie früher Lebertran getrunken hatte, wenn sie krank gewesen war und die Frau Doktor meinte, sie habe eine Stärkung nötig.
Im Morgenlicht sah das Ghetto weniger unheimlich aus als in der Dämmerung. Sie machte sich auf den Weg zum Brunnen, um frisches Wasser zu trinken und um den ekligen Geschmack loszuwerden. Als sie in die Hauptstraße einbog, sah sie vor sich, nur einige Meter entfernt, zwei Jungen gehen, Schlomo und Jossel. Aufgeregt und froh rannte sie ihnen hinterher, und als sie sie eingeholt hatte, packte sie Jossel am Arm und rief lachend: »He, ihr, wie seid ihr denn hierher gekommen?«
Der Junge drehte sich um. Es war nicht Jossel und der andere war nicht Schlomo.
»Was willst du?«, fragte der Große. »Hau ab.« Seine Stimme war rau und die letzten Worte hatte er im selben Tonfall gesagt wie Schlomo.
Malka ließ die Arme sinken, die Freude lief aus ihrem Gesicht, aus ihrem Körper, und plötzlich fühlte sie sich ganz schwach. Sie lehnte sich an die Wand und schaute den beiden nach, dann folgte sie ihnen in einem sicheren Abstand, auch als sie in ein Haus gingen und eine Wohnung betraten. Sie wartete im Treppenhaus, hinter dem Geländer versteckt, bis sie herauskamen und in die Nachbarwohnung gingen, stieg eine Treppe höher und beschloss, die beiden nicht aus den Augen zu verlieren. Als sie diesmal herauskamen, hatten sie Brot in den Händen. Malka reckte sich über das Geländer.
Der Große entdeckte sie. »Was willst du?«, fragte er mit vollem Mund.
»Ich habe Hunger«, sagte Malka.
Der Junge lachte. »Dann hol dir doch was zu essen. Nach einer Aktion ist es nicht schwer, was zu essen zu bekommen. Und hör endlich auf, uns nachzulaufen wie ein Hund, wir können keine Mädchen brauchen.«
Damit waren die beiden verschwunden. Aber sie hatten Recht. An diesem Tag war es wirklich nicht schwer, etwas zu essen zu bekommen. Es dauerte noch eine ganze Weile, bis Malka es wagte, einfach eine fremde Wohnung zu betreten und in einer fremden Küche nach etwas Essbarem zu suchen, doch dann fand sie genug. Auf manchen Tischen stand noch das Frühstück vom Morgen, als die Aktion stattgefunden hatte. Die Milch war sauer geworden, das Brot hart, aber alles war besser als der Mehlpapp.
Den ganzen Tag lang lief Malka durch Wohnungen und aß, was sie fand. Sie schaute sich auch in den Zimmern um, betrachtete die Betten und überlegte, in welche Wohnung sie vielleicht ziehen würde, in welchem Bett sie vielleicht schlafen wollte. Auf einem Nachttisch lag ein kleines Buch mit biblischen Geschichten, ähnlich dem, das sie bei Ciotka gelesen hatte. Sie steckte es ein, obwohl sie sich kaum vorstellen konnte, sich wie früher irgendwohin zu setzen und zu lesen.
In einem Schrank entdeckte sie ein paar Kinderstiefel. Sie waren ihr zu klein. In der Küchenschublade lag ein Messer. Mit viel
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