Malka Mai
hatte. Er lag auf ihrer Matratze, unter der zusammengefalteten Decke.
Dann stand sie vor dem Laden, mit dem Rücken zur Straße, und betrachtete das Schaufenster. Das Glas war an einer Seite kaputt, Klebstreifen hielten die zerbrochenen Teile zusammen. Im Schaufenster war nicht viel zu sehen, zwei Besen, eine Tonne mit Waschpulver, ein paar aufeinander gelegte Putzlappen. Malka zog die Schultern hoch, doch dann ließ sie sie wieder sinken. Sie war sauber und frisch gewaschen, sogar den abgerissenen Kleidersaum hatte Ciotka wieder angenäht, es gab keinen Grund dafür, dass jemand sie misstrauisch anschauen sollte. Sie war ein gewöhnliches Mädchen. Niemand sah ihr an, was sie wusste, was sie dachte und was sie fühlte. Und was sie gesehen hatte.
Ciotka kam über die Straße und nahm Malka an der Hand. Sie führte sie zurück zur Kirche. Malka merkte es erst, als sie um die Ecke bogen und sie die Steintreppe sah, die zum Portal hinaufführte. Schnell senkte sie den Kopf, um nicht die Straße hinunterzuschauen, die zum Ghetto führte, aber sie hatte gerade noch gesehen, dass sich an der Ecke keine Menschen zusammendrängten und dass keine Deutschen mit angelegten Gewehren da standen.
Malka starrte auf den Boden, auf die Pflastersteine, die sich nach oben wölbten. Manche waren breiter und höher als die anderen. Sie waren noch feucht vom Regen und glänzten graublau, als würden sie den Himmel spiegeln. Langsam drang die Feuchtigkeit durch ihre Fußlappen. Malka sah, wie die Pflastersteine unter ihrem Blick rückwärts davonglitten, sie sah Ciotkas Beine, deren Füße in festen, braunen Halbschuhen steckten, die Kappen waren abgewetzt, der Schnürsenkel des rechten Schuhs war mehrfach geknotet.
Ciotka trug dicke, dunkelblaue Wollsocken, ähnlich denen, die sie Malka heute Morgen angezogen hatte, bevor sie ihr neue Fußlappen darüber band. Die Socken waren viel zu groß für ihre Füße, aber sie fühlten sich rau und warm und vertraut an. »Du musst die Spitze nach oben kippen«, hatte Ciotka gesagt, »damit dir die Beulen nicht an der Sohle wehtun.«
Plötzlich blieben die braunen Halbschuhe stehen, der Griff um Malkas Hand lockerte sich, ließ sie los. Schlaff sank sie an ihrem Körper herunter und hing da, hilflos, ungewollt, und Malka vermisste die Wärme, die sie gerade noch gespürt hatte. Doch da griff Ciotka wieder nach ihrer Hand und Malka sah, wie ihr die faltigen Hände, die sie gekämmt, gewaschen und gefüttert hatten, einen rotbackigen Apfel auf die Handfläche legten und ihre Finger darum schlossen. »Jetzt kannst du wieder nach Hause«, sagte Ciotka. »Es ist vorbei, im Ghetto herrscht wieder Ruhe.«
Malka fühlte, wie sie ihr noch einmal über die Haare strich, dann sah sie die braunen Halbschuhe von hinten, die hochgezogenen Lederstücke an den Fersen, darüber die gerollten dunkelblauen Socken, den gefältelten, weiten dunklen Rock, unter dem helle Waden aufleuchteten, als Ciotka die Stufen hinaufstieg. Sie sah auch die grauen Schürzenbänder, die über das breite Gesäß hingen und sich bei jedem Schritt bewegten, doch schon die Taille blieb ihr verborgen, dazu hätte sie den Kopf heben müssen. Die Kirchentür ging auf, die Schuhe drehten sich halb zur Seite, der Rock verschwand mit einem schnellen Schwenker, die Tür fiel zu.
Malka stand da, allein, einen Apfel in der Hand, und wagte jetzt erst, den Blick zu heben. Dicht an den Häusern entlang bewegte sie sich auf die Straßenecke zu. Beim Gehen schob sie den Apfel in ihre Jackentasche und legte schützend die Hand darüber. Auf der gegenüberliegenden Seite war es passiert, hier, rechts von ihr, waren die Menschen umgefallen und liegen geblieben, ja nicht hinschauen, den Blick auf die andere Seite der Kreuzung richten, auf die Straße, die zum Ghetto führte. Und dann schaute sie doch hinüber.
Niemand lag auf der Straße. Ein großer Junge bog um die Ecke, einen Handkarren mit zwei Säcken hinter sich herziehend. Auch da drüben waren die Steine vom Regen sauber gewaschen, nur die Erdritzen dazwischen schienen an manchen Stellen dunkler zu sein, aber vielleicht bildete sie sich das auch nur ein.
Malka überquerte die Straße. Auf dem Gehweg schlenderten zwei deutsche Soldaten auf und ab. Sie hatten ihre Gewehre umgehängt, in den Händen hielten sie Zigaretten. Sie sahen aus wie ganz normale Männer. Immer wieder blieben sie stehen und unterhielten sich miteinander. Einer lachte laut, vielleicht hatte ihm sein Kamerad einen Witz
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